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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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unvolksthümlichen Voraussetzungen bernhte. Ein Dichter von dem immensesten
Talent, wie z. B. Dante, wurde eben dadurch zu Aufgaben getrieben, die aller
Poesie Hohn sprachen. Sei" "Himmel" ist nichts Anderes als der Versuch, Licht
ohne Farbe und ohne Schatten zu malen. Das ganze Mittelalter hatte sein
Gewissen und seine Ideale außer sich, nud es unterschied sich von'dem spätern
reflectirte" Katholicismus nur dadurch, daß es diesen Verlust seines eigenen
Herzens gar nicht merkte. Es bewegte sich eben so unbefangen in dem gottlosesten
Materialismus lBocaccio, Reinecke Fuchs, Macchiavelli), wie in eiuer überirdischen
heiligen Welt, auf welche die Gesetze der Natur und der Sittlichkeit gar keine
Anwendung finden konnten.

Wie man von Sokrates sagt, er habe die Philosophie vom Himmel aus die
Erde geführt, so kann, man auch von der Reformation behaupten, sie habe den
Idealismus der Realität, und das Gewissen dem Gemüth wieder erobert, und
dadurch dem tiefen Sinn des Christenthums erst recht eigentlich die Herrschaft der
Welt gewonnen. Die Allmacht des Gewissens, d. h. die ernste Idee von der
Continuität des moralischen Lebens, hat Keiner so tief und ergreifend aufgefaßt,
als Luther und Shakespeare. Diese Männer haben überhaupt eine große Seelen-
Verwandtschaft. Bei Beiden finden mir eine Fähigkeit ohne Gleichen, Seelenzu-
stande in detaillirte Anschauung zu übersetzen; Beide haben eine unendliche
Freude an dem heitern, buntbewegten Spiel des Lebens und eine unendliche
Fähigkeit des Schmerzes, des Entsetzens über die Gefangenschaft des Geistes im
Reich des Bösen. Ohne übrigens dem Werth des Erster" zu nahe treten zu
wollen, müssen wir behaupten, daß wenigstens für uns die Weise, in der Shake¬
speare diesen Gedanken nachgeht, lehrreicher und bildender ist; denn bei ihm
durchdringt der Zuhält vollständig dj,e Form, während bei Luther alle Augenblicke
der Theolog (wohl zu unterscheiden vom Glänbigen) hervortritt, um die eben
gewonnenen Resultate wieder'aufzuheben. Es fällt nus nicht ein, die Sache so
aufzufassen, als ob sich Shakespeare den moralischen Gedanken von der Zurecl^
nnngsfäbigkeit der menschlichem Seele vorher theoretisch ausgeklügelt und dann
zur Versinnlichung desselben seine Dramen geschrieben habe. Sein Zweck war
vielmehr, wie bei allen großen Dichtern, durch Darstellung von Leidenschaften nud
Schicksalen das Gemüth zu erschüttern; aber sein ganzer Geist war so von der
Protestantischen Gesinnung erfüllt, daß er diese Leidenschaften und Schicksale
nicht anders darstellen konnte, als vom Standpunkt des Gewissens. So hat er
z. B. in seinem Cäsar so ziemlich die geläufigen Vorstellungen von der römischen
Geschichte beibehalten, das Alles aber nimmt unter seinen Händen eine Färbung
an, die wir bei den römischen Historikern oder bei den mittelalterlichen Abenteuer-
erzähleru vergebens suchen würden; eine Färbung, wie sie in der ganzen Poesie
der Weltgeschichte bis dahin noch nicht vorgekommen war. So viel Aeußerlichkeiten
auch in diesem Drama dargestellt werden, das ganze Interesse concentrirt sich in


unvolksthümlichen Voraussetzungen bernhte. Ein Dichter von dem immensesten
Talent, wie z. B. Dante, wurde eben dadurch zu Aufgaben getrieben, die aller
Poesie Hohn sprachen. Sei» „Himmel" ist nichts Anderes als der Versuch, Licht
ohne Farbe und ohne Schatten zu malen. Das ganze Mittelalter hatte sein
Gewissen und seine Ideale außer sich, nud es unterschied sich von'dem spätern
reflectirte» Katholicismus nur dadurch, daß es diesen Verlust seines eigenen
Herzens gar nicht merkte. Es bewegte sich eben so unbefangen in dem gottlosesten
Materialismus lBocaccio, Reinecke Fuchs, Macchiavelli), wie in eiuer überirdischen
heiligen Welt, auf welche die Gesetze der Natur und der Sittlichkeit gar keine
Anwendung finden konnten.

Wie man von Sokrates sagt, er habe die Philosophie vom Himmel aus die
Erde geführt, so kann, man auch von der Reformation behaupten, sie habe den
Idealismus der Realität, und das Gewissen dem Gemüth wieder erobert, und
dadurch dem tiefen Sinn des Christenthums erst recht eigentlich die Herrschaft der
Welt gewonnen. Die Allmacht des Gewissens, d. h. die ernste Idee von der
Continuität des moralischen Lebens, hat Keiner so tief und ergreifend aufgefaßt,
als Luther und Shakespeare. Diese Männer haben überhaupt eine große Seelen-
Verwandtschaft. Bei Beiden finden mir eine Fähigkeit ohne Gleichen, Seelenzu-
stande in detaillirte Anschauung zu übersetzen; Beide haben eine unendliche
Freude an dem heitern, buntbewegten Spiel des Lebens und eine unendliche
Fähigkeit des Schmerzes, des Entsetzens über die Gefangenschaft des Geistes im
Reich des Bösen. Ohne übrigens dem Werth des Erster» zu nahe treten zu
wollen, müssen wir behaupten, daß wenigstens für uns die Weise, in der Shake¬
speare diesen Gedanken nachgeht, lehrreicher und bildender ist; denn bei ihm
durchdringt der Zuhält vollständig dj,e Form, während bei Luther alle Augenblicke
der Theolog (wohl zu unterscheiden vom Glänbigen) hervortritt, um die eben
gewonnenen Resultate wieder'aufzuheben. Es fällt nus nicht ein, die Sache so
aufzufassen, als ob sich Shakespeare den moralischen Gedanken von der Zurecl^
nnngsfäbigkeit der menschlichem Seele vorher theoretisch ausgeklügelt und dann
zur Versinnlichung desselben seine Dramen geschrieben habe. Sein Zweck war
vielmehr, wie bei allen großen Dichtern, durch Darstellung von Leidenschaften nud
Schicksalen das Gemüth zu erschüttern; aber sein ganzer Geist war so von der
Protestantischen Gesinnung erfüllt, daß er diese Leidenschaften und Schicksale
nicht anders darstellen konnte, als vom Standpunkt des Gewissens. So hat er
z. B. in seinem Cäsar so ziemlich die geläufigen Vorstellungen von der römischen
Geschichte beibehalten, das Alles aber nimmt unter seinen Händen eine Färbung
an, die wir bei den römischen Historikern oder bei den mittelalterlichen Abenteuer-
erzähleru vergebens suchen würden; eine Färbung, wie sie in der ganzen Poesie
der Weltgeschichte bis dahin noch nicht vorgekommen war. So viel Aeußerlichkeiten
auch in diesem Drama dargestellt werden, das ganze Interesse concentrirt sich in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/419>, abgerufen am 22.12.2024.