Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.zu thun, während man in allem Uebrigen ihnen keine Geistesstörung anmerkt. Andere Eine andere Reihe von Erscheinungen eines derartigen Gehirnlcidens, wie es das Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt. Als verantwort!. Redacteur legitimirt: F. W. Grunow.-- Verlag von F. L. Hering in Leipzig. Druck von C. E. Elbert in Leipzig. zu thun, während man in allem Uebrigen ihnen keine Geistesstörung anmerkt. Andere Eine andere Reihe von Erscheinungen eines derartigen Gehirnlcidens, wie es das Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt. Als verantwort!. Redacteur legitimirt: F. W. Grunow.— Verlag von F. L. Hering in Leipzig. Druck von C. E. Elbert in Leipzig. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0412" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94853"/> <p xml:id="ID_1257" prev="#ID_1256"> zu thun, während man in allem Uebrigen ihnen keine Geistesstörung anmerkt. Andere<lb/> haben übertriebene Besorgnisse vor Diebstahl/ durchlaufen des Abends sämmtliche Räume<lb/> des Hauses mit Licht, verschließen selbst alles sorgfältig, halten Waffen zur Abwehr<lb/> bereit, umstreichen des Nachts mit geladenem Gewehr das Haus, schießen auch wol<lb/> zuweilen ab, um die Diebe zu erschrecken, weigern sich Abgaben zu bezahlen, weil sie<lb/> sich übervortheilt glauben, wähnen sich von ihren Dienstleuten betrogen, schelten sie<lb/> ohne weiteres als Diebe, wenn sie selbst etwas verlegt haben, wollen ihnen nichts oder nur<lb/> wenig oder schlechtes zu essen geben, keifen und' schmälern den ganzen Tag, oder sind<lb/> bald wieder vertraulich mit ihnen. In ihrem häuslichen Kreise sind sie eisersüchtig oder<lb/> haben eine Abneigung gegen Gatten oder Kinder. — Ein Mann, der gesund, wegen<lb/> seiner großen Liebe zu Frau und Kindern bekannt war, verlor allmählich seine Neigung<lb/> zu Allem so vollkommen, daß er sagte: „er würde sie vor seinen Augen auf der<lb/> Schlachtbank sehen können, ohne daß er nur die geringste Traurigkeit empfände/ oder<lb/> auch nur die Neigung fühlte, vom Stuhle aufzustehen, um sie zu beschützen." Andere<lb/> suchen die Bibel und das Gesangbuch aus, gehen häufig in die Kirche und vernachlässigen<lb/> darüber die Weltlichkeit, die ihnen sonst nicht fern lag.</p><lb/> <p xml:id="ID_1258"> Eine andere Reihe von Erscheinungen eines derartigen Gehirnlcidens, wie es das<lb/> Jrrsein begleitet, umsaßt diejenigen, die als körperliche zum Vorschein treten. Hierher<lb/> gehören alle die, welche dem Bereiche der Sensibilität zufallen. Vor Allem ist der<lb/> Kopfschmerz, der selten fehlt. Bald ist er stetig, bald läßt er nur nach, bald inter-<lb/> mittirt er; bald ist er halbseitig, bald in der Scheitelgegend, bald in der Stirn, bald<lb/> im Hinterhaupt?, bald verbreitet er sich über den ganzen Kopf. Er ist dumpf, klopfend,<lb/> reißend, stechend, umschrieben oder er erregt die Empfindung, als ob Etwas im Kopfe<lb/> von der einen Seite nach der andern, von vorn nach hinten wolle, -als ob ein Ge¬<lb/> wicht im Kopfe wäre, als ob der Schädel platzen, die Nähte zerreißen, oder das Gehirn<lb/> zu den Augenhöhlen heraufdrangen wolle. Er beeinträchtigt oder erhöht die Aufmerk¬<lb/> samkeit, und ist von Hitze oder Wallungen des Blutes nach dem Kopfe begleitet. Die<lb/> Sensibilität der Sinne ist verstärkt oder vermindert und die leisesten Geräusche, die<lb/> zartesten Farben erscheinen grell oder berühren in einer scheinbar veränderten Gestalt den<lb/> Sinncsnerv. Bald starrt das Auge träumerisch vor sich hin, bald blickt es unsicher<lb/> umher, bald ist es stechend, bald der Blick wechselnd oder unruhig, bald sieht es doppelt<lb/> und ist von einer unregelmäßigen Thätigkeit der benachbarten Muskeln begleitet. Flüch¬<lb/> tige Schauer und fliegende Hitze wechseln nicht selten bei acuten Verlaufe mit einander<lb/> ab. Oder der Kranke hat das Gefühl einer Angst, die das Athmen erschwert und<lb/> den Kreislauf stört, und später die verschiedenartigsten Vorstellungen bedingt. Alle<lb/> diese Erscheinungen kommen mehr oder- weniger zum Vorscheine, können Jahre lang<lb/> vorhergehen, auch ganz wieder verschwinden, ohne daß eS zum Ausbruch des<lb/> Jrrseins kommt. Je länger der Verlauf, desto geringer pflegen die Erscheinungen zu<lb/> sein und desto weniger werden sie erkannt, weil die bestimmten Momente der Aufmerk¬<lb/> samkeit entgehen, weil die Umgebung sich an den allmählichen Verlauf gewöhnt und die<lb/> Folgen nicht erkennt, und weil Einzelheiten äußeren Umständen, launenhaften Wesen,<lb/> kränklicher Reizbarkeit u. s. w. zugeschrieben werden.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <note type="byline"> Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt.<lb/> Als verantwort!. Redacteur legitimirt: F. W. Grunow.— Verlag von F. L. Hering<lb/> in Leipzig.<lb/> Druck von C. E. Elbert in Leipzig.</note><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0412]
zu thun, während man in allem Uebrigen ihnen keine Geistesstörung anmerkt. Andere
haben übertriebene Besorgnisse vor Diebstahl/ durchlaufen des Abends sämmtliche Räume
des Hauses mit Licht, verschließen selbst alles sorgfältig, halten Waffen zur Abwehr
bereit, umstreichen des Nachts mit geladenem Gewehr das Haus, schießen auch wol
zuweilen ab, um die Diebe zu erschrecken, weigern sich Abgaben zu bezahlen, weil sie
sich übervortheilt glauben, wähnen sich von ihren Dienstleuten betrogen, schelten sie
ohne weiteres als Diebe, wenn sie selbst etwas verlegt haben, wollen ihnen nichts oder nur
wenig oder schlechtes zu essen geben, keifen und' schmälern den ganzen Tag, oder sind
bald wieder vertraulich mit ihnen. In ihrem häuslichen Kreise sind sie eisersüchtig oder
haben eine Abneigung gegen Gatten oder Kinder. — Ein Mann, der gesund, wegen
seiner großen Liebe zu Frau und Kindern bekannt war, verlor allmählich seine Neigung
zu Allem so vollkommen, daß er sagte: „er würde sie vor seinen Augen auf der
Schlachtbank sehen können, ohne daß er nur die geringste Traurigkeit empfände/ oder
auch nur die Neigung fühlte, vom Stuhle aufzustehen, um sie zu beschützen." Andere
suchen die Bibel und das Gesangbuch aus, gehen häufig in die Kirche und vernachlässigen
darüber die Weltlichkeit, die ihnen sonst nicht fern lag.
Eine andere Reihe von Erscheinungen eines derartigen Gehirnlcidens, wie es das
Jrrsein begleitet, umsaßt diejenigen, die als körperliche zum Vorschein treten. Hierher
gehören alle die, welche dem Bereiche der Sensibilität zufallen. Vor Allem ist der
Kopfschmerz, der selten fehlt. Bald ist er stetig, bald läßt er nur nach, bald inter-
mittirt er; bald ist er halbseitig, bald in der Scheitelgegend, bald in der Stirn, bald
im Hinterhaupt?, bald verbreitet er sich über den ganzen Kopf. Er ist dumpf, klopfend,
reißend, stechend, umschrieben oder er erregt die Empfindung, als ob Etwas im Kopfe
von der einen Seite nach der andern, von vorn nach hinten wolle, -als ob ein Ge¬
wicht im Kopfe wäre, als ob der Schädel platzen, die Nähte zerreißen, oder das Gehirn
zu den Augenhöhlen heraufdrangen wolle. Er beeinträchtigt oder erhöht die Aufmerk¬
samkeit, und ist von Hitze oder Wallungen des Blutes nach dem Kopfe begleitet. Die
Sensibilität der Sinne ist verstärkt oder vermindert und die leisesten Geräusche, die
zartesten Farben erscheinen grell oder berühren in einer scheinbar veränderten Gestalt den
Sinncsnerv. Bald starrt das Auge träumerisch vor sich hin, bald blickt es unsicher
umher, bald ist es stechend, bald der Blick wechselnd oder unruhig, bald sieht es doppelt
und ist von einer unregelmäßigen Thätigkeit der benachbarten Muskeln begleitet. Flüch¬
tige Schauer und fliegende Hitze wechseln nicht selten bei acuten Verlaufe mit einander
ab. Oder der Kranke hat das Gefühl einer Angst, die das Athmen erschwert und
den Kreislauf stört, und später die verschiedenartigsten Vorstellungen bedingt. Alle
diese Erscheinungen kommen mehr oder- weniger zum Vorscheine, können Jahre lang
vorhergehen, auch ganz wieder verschwinden, ohne daß eS zum Ausbruch des
Jrrseins kommt. Je länger der Verlauf, desto geringer pflegen die Erscheinungen zu
sein und desto weniger werden sie erkannt, weil die bestimmten Momente der Aufmerk¬
samkeit entgehen, weil die Umgebung sich an den allmählichen Verlauf gewöhnt und die
Folgen nicht erkennt, und weil Einzelheiten äußeren Umständen, launenhaften Wesen,
kränklicher Reizbarkeit u. s. w. zugeschrieben werden.
Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt.
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