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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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benie, der Stein'sche, Jähns'sche und Schneider'sche Gesangverein; dazu kommen
aber der Taschner'sche, Hauer'sche, Wendet'sche, Kotzoldt'sche, und noch viele
kleinere, daneben Männergesangvereine, feststehende größere Familicncirkel, kurz,
es wird auf diese Weise so viel Musik getrieben, daß man im Winter glauben
könnte, es existire keine andere Beschäftigung mehr. Je mehr aber die Sucht,
selbst etwas zu leisten, hervortritt, desto mehr nimmt die Neigung, zu hören, ab;
und wenn es schon in unseren Gesellschaften dahin gekommen ist, daß die singenden
Individuen ohne Zuhörer singen, so wird auch der Besuch der Concerte.von
Jahr zu Jahr mehr abnehmen; und wie wir in'der Literatur fast mehr Schrift¬
steller, als Leser haben, so wird es anch bald in der Mustk sein. -- Die Con¬
certe der Singakademie fanden schon in diesem Jahre eine sehr geringe Theil¬
nahme. Das lag freilich theilweise an dem Mißcredit, in den die Aufführungen
gekommen sind, theilweise auch an der nicht sehr einladenden Auswahl der Kom¬
positionen. Aber wenn z. B. ein Werk, wie der Judas Maccabäus von Händel,
in einer Stadt, die keine große Neigung zur romantischen, modernen Musik hat,
keinen vollen Saal macht, so ist das ein Beweis für eine eintretende Abstumpfung.
Außer dem Händel'sehen Oratorium kam ein Spohr'sches "des Heilands letzte
Stunden", nächstdem ein Vaterunser von Taubert und eine Messe von Emil Nau-
mann, endlich Bach's Passion und der Tod Jesu zur Aufführung, von denen "die
beiden letztgenannten Werke nicht zu dem Cyclus der Abonncmentsconcerte ge¬
hörten und fehr zahlreich besucht waren. Das Vaterunser von Taubert ist eine
gefällige Komposition, zart und lieblich gehalten, aber mehr in den Soli's und
dem Orchester denn die Kunst für Chor zu schreiben, die in einer gewissen plastischen
Großartigkeit besteht, besitzt Taubert nicht, er ersetzt den Mangel an Erfindung
dnrch feine Einzelnheiten, die sich weniger auf die Zeichnung, als auf die Färbung
beziehen. Das Werk fand Beifall, wie natürlich; denn Taubert ist unter dem
Einfluß Berlin's groß geworden und gebildet. Die Messe von Naumann ist ein
Werk, das von Talent für plastische Form und von Orgcmisations-. und Aneig-
nungskraft Zeugniß giebt; je mehr es dem noch jungen Komponisten gelingt, der
eklektischen Richtung, der er Mit Geist und Verständniß anhängt, Einheit und .
Bestimmtheit des Charakters zu geben, desto Bedeutenderes wird er leisten. -- Die
Ausführung der von der Singakademie veranstalteten Concerte hielt sich im Ganzen
ans dem Niveau der früheren Jahre. Manches war, namentlich in deu letzten Con¬
certen, die Grell ausschließlich leitete, recht gelungen; anch in den Soli's war
Vortreffliches, namentlich kann der Vortrag des Evangelisten in der Passion durch
Martius als vollendet bezeichnet werden. Durch den Tod Ruugetchagens ist
für die Singakademie eine entscheidende Wendung herbeigeführt. Nungenhagen starb
in den Siebzigern und hinterließ den Ruf einer Reinheit des Strebens, wie sie heut
zu Tage nur in vereinzelten Beispielen vorkommt. Es mochte ihm dies erleich¬
tert werden durch seine Stellung, die in ihrer Abgeschlossenheit und idealen


benie, der Stein'sche, Jähns'sche und Schneider'sche Gesangverein; dazu kommen
aber der Taschner'sche, Hauer'sche, Wendet'sche, Kotzoldt'sche, und noch viele
kleinere, daneben Männergesangvereine, feststehende größere Familicncirkel, kurz,
es wird auf diese Weise so viel Musik getrieben, daß man im Winter glauben
könnte, es existire keine andere Beschäftigung mehr. Je mehr aber die Sucht,
selbst etwas zu leisten, hervortritt, desto mehr nimmt die Neigung, zu hören, ab;
und wenn es schon in unseren Gesellschaften dahin gekommen ist, daß die singenden
Individuen ohne Zuhörer singen, so wird auch der Besuch der Concerte.von
Jahr zu Jahr mehr abnehmen; und wie wir in'der Literatur fast mehr Schrift¬
steller, als Leser haben, so wird es anch bald in der Mustk sein. — Die Con¬
certe der Singakademie fanden schon in diesem Jahre eine sehr geringe Theil¬
nahme. Das lag freilich theilweise an dem Mißcredit, in den die Aufführungen
gekommen sind, theilweise auch an der nicht sehr einladenden Auswahl der Kom¬
positionen. Aber wenn z. B. ein Werk, wie der Judas Maccabäus von Händel,
in einer Stadt, die keine große Neigung zur romantischen, modernen Musik hat,
keinen vollen Saal macht, so ist das ein Beweis für eine eintretende Abstumpfung.
Außer dem Händel'sehen Oratorium kam ein Spohr'sches „des Heilands letzte
Stunden", nächstdem ein Vaterunser von Taubert und eine Messe von Emil Nau-
mann, endlich Bach's Passion und der Tod Jesu zur Aufführung, von denen "die
beiden letztgenannten Werke nicht zu dem Cyclus der Abonncmentsconcerte ge¬
hörten und fehr zahlreich besucht waren. Das Vaterunser von Taubert ist eine
gefällige Komposition, zart und lieblich gehalten, aber mehr in den Soli's und
dem Orchester denn die Kunst für Chor zu schreiben, die in einer gewissen plastischen
Großartigkeit besteht, besitzt Taubert nicht, er ersetzt den Mangel an Erfindung
dnrch feine Einzelnheiten, die sich weniger auf die Zeichnung, als auf die Färbung
beziehen. Das Werk fand Beifall, wie natürlich; denn Taubert ist unter dem
Einfluß Berlin's groß geworden und gebildet. Die Messe von Naumann ist ein
Werk, das von Talent für plastische Form und von Orgcmisations-. und Aneig-
nungskraft Zeugniß giebt; je mehr es dem noch jungen Komponisten gelingt, der
eklektischen Richtung, der er Mit Geist und Verständniß anhängt, Einheit und .
Bestimmtheit des Charakters zu geben, desto Bedeutenderes wird er leisten. — Die
Ausführung der von der Singakademie veranstalteten Concerte hielt sich im Ganzen
ans dem Niveau der früheren Jahre. Manches war, namentlich in deu letzten Con¬
certen, die Grell ausschließlich leitete, recht gelungen; anch in den Soli's war
Vortreffliches, namentlich kann der Vortrag des Evangelisten in der Passion durch
Martius als vollendet bezeichnet werden. Durch den Tod Ruugetchagens ist
für die Singakademie eine entscheidende Wendung herbeigeführt. Nungenhagen starb
in den Siebzigern und hinterließ den Ruf einer Reinheit des Strebens, wie sie heut
zu Tage nur in vereinzelten Beispielen vorkommt. Es mochte ihm dies erleich¬
tert werden durch seine Stellung, die in ihrer Abgeschlossenheit und idealen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/320>, abgerufen am 22.12.2024.