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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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specifisch deutschen Lebens vollkommen blind. In diesem Beziehung ist in der neuern
germanistischen Richtung ein ungeheurer Fortschritt eingetreten, nicht nur, was
die Gelehrsamkeit und das Wissen betrifft, sondern auch für das Gefühl und
das gemüthliche Verständniß. In einzelnen Scenen, die uns Arnim aus der
Zeit der Reformation darstellt, geht uns eine so große Fülle wahrhaft geschicht¬
lichen Lebens aus, ein so tiefes Verständniß der Zeit bis in ihre kleinsten Nuancen
hinein, daß wir nur mit dem lebhaftesten Bedauern ihn in die Abwege gerathen
sehen, die ihn von der Bahn eines Walter Scott entfernt haben. Gleichsam
vorahnend spricht sich in seinen Romanen die höhere Auffassung der Geschichte
aus, die unsrer Zeit als Ideal vorschweben muß, nämlich die Aufgabe, ein con-
creteS Leben wieder herzustellen, Mehl blos ein Referat über einzelne Seiten der,
Politik mit hinzugefügten Reflexionen.

Wir haben bei der-sogenannten historischen Schule in der Regel nur die
politische Seite im Ange, die uns in ihren schlimmen Folgen zu nahe liegt, um
ganz unbefangen über sie urtheilen zu können. In der That ist niemals mit
srechcren Sophismen der Wahrheit in's Gesicht geschlagen worden, als von diesen
Advocaten der Theokratie und des Absolutismus. Aber wir dürfen nicht vergessen,
daß trotzdem ihre Verdienste um die Geschichte sehr groß waren. Freilich war
nichts so thöricht, als wenn sie eigentlich mit einem bloßen Witz, mit dem Ver¬
gleich des Wachsthums eiuer Pflanze mit dem WaclMhnm eines Staats, den
Gedanken und 'den Begriff aus der historischen Entwickelung verbannen wollten,
aber sie haben doch mit großem Recht und mit entschiedenem Erfolg das allge¬
meine Bewußtsein darauf hingeleitet, daß in der Entwickelung der Nationen ein
specifischer Geist sich geltend macht, gegen den ankämpfen zu wollen, von den
Einzelnen ein ebenso vermessenes als thörichtes Unternehmen ist. Diesen Geist der
Nation haben sie nun durch die Aufsuchung seiner mannichfaltigen Erscheinungen in
allen Seiten des Volkslebens darzustellen gesucht, und seitdem diese Untersuchun¬
gen wissenschaftlich so in's Große getrieben sind, wie durch die Gebrüder Grimm,
können wir wol behaupte", wenigstens in unsrer Vorzeit zu Hanse zu sein.
Vielleicht wird eS uns allmählich gelingen, uns auch in rmsrer Gegenwart zurecht
zu finden.

Der Gegensatz dieser neuern Romantiker-gegen die"ältern, der sich aus der
tiefern und, concretern Auffassung des deutschen Lebens nothwendig, ergab, war
unter Anderem auch der, daß sie entschieden protestantisch und in Beziehung ans
die Entwickelung der wirkliche" Verfassung Deutschlands entschieden antighibellinisch
waren. Wenn man sich nnr die Mühe giebt, es aufzusuchen, so findet sich in
der Beurtheilung des deutschen Hehers bei Arnim ein viel > gesunderer Sinn und
ein, viel tieferes Verständniß, als bei einer großen Zahl der Tugendbündler,
Burschenschafter und frisch-froh-fromm-freien Turner, die deutsch zu sein glaubten,
wenn sie eine höchst abenteuerliche Tracht anlegten, sich in einer höchst sinnlosen
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specifisch deutschen Lebens vollkommen blind. In diesem Beziehung ist in der neuern
germanistischen Richtung ein ungeheurer Fortschritt eingetreten, nicht nur, was
die Gelehrsamkeit und das Wissen betrifft, sondern auch für das Gefühl und
das gemüthliche Verständniß. In einzelnen Scenen, die uns Arnim aus der
Zeit der Reformation darstellt, geht uns eine so große Fülle wahrhaft geschicht¬
lichen Lebens aus, ein so tiefes Verständniß der Zeit bis in ihre kleinsten Nuancen
hinein, daß wir nur mit dem lebhaftesten Bedauern ihn in die Abwege gerathen
sehen, die ihn von der Bahn eines Walter Scott entfernt haben. Gleichsam
vorahnend spricht sich in seinen Romanen die höhere Auffassung der Geschichte
aus, die unsrer Zeit als Ideal vorschweben muß, nämlich die Aufgabe, ein con-
creteS Leben wieder herzustellen, Mehl blos ein Referat über einzelne Seiten der,
Politik mit hinzugefügten Reflexionen.

Wir haben bei der-sogenannten historischen Schule in der Regel nur die
politische Seite im Ange, die uns in ihren schlimmen Folgen zu nahe liegt, um
ganz unbefangen über sie urtheilen zu können. In der That ist niemals mit
srechcren Sophismen der Wahrheit in's Gesicht geschlagen worden, als von diesen
Advocaten der Theokratie und des Absolutismus. Aber wir dürfen nicht vergessen,
daß trotzdem ihre Verdienste um die Geschichte sehr groß waren. Freilich war
nichts so thöricht, als wenn sie eigentlich mit einem bloßen Witz, mit dem Ver¬
gleich des Wachsthums eiuer Pflanze mit dem WaclMhnm eines Staats, den
Gedanken und 'den Begriff aus der historischen Entwickelung verbannen wollten,
aber sie haben doch mit großem Recht und mit entschiedenem Erfolg das allge¬
meine Bewußtsein darauf hingeleitet, daß in der Entwickelung der Nationen ein
specifischer Geist sich geltend macht, gegen den ankämpfen zu wollen, von den
Einzelnen ein ebenso vermessenes als thörichtes Unternehmen ist. Diesen Geist der
Nation haben sie nun durch die Aufsuchung seiner mannichfaltigen Erscheinungen in
allen Seiten des Volkslebens darzustellen gesucht, und seitdem diese Untersuchun¬
gen wissenschaftlich so in's Große getrieben sind, wie durch die Gebrüder Grimm,
können wir wol behaupte», wenigstens in unsrer Vorzeit zu Hanse zu sein.
Vielleicht wird eS uns allmählich gelingen, uns auch in rmsrer Gegenwart zurecht
zu finden.

Der Gegensatz dieser neuern Romantiker-gegen die«ältern, der sich aus der
tiefern und, concretern Auffassung des deutschen Lebens nothwendig, ergab, war
unter Anderem auch der, daß sie entschieden protestantisch und in Beziehung ans
die Entwickelung der wirkliche» Verfassung Deutschlands entschieden antighibellinisch
waren. Wenn man sich nnr die Mühe giebt, es aufzusuchen, so findet sich in
der Beurtheilung des deutschen Hehers bei Arnim ein viel > gesunderer Sinn und
ein, viel tieferes Verständniß, als bei einer großen Zahl der Tugendbündler,
Burschenschafter und frisch-froh-fromm-freien Turner, die deutsch zu sein glaubten,
wenn sie eine höchst abenteuerliche Tracht anlegten, sich in einer höchst sinnlosen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/263>, abgerufen am 22.12.2024.