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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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die Aufgabe der übrigen Künste, ein schönes Bild herzustellen; jener Cultus der
Humanität, der das ganze Weltall umfaßte und alle individuellen Unter¬
schiede zu verwischen glaubte; jene Freimaurerei, die weit über die Grenzen dieses
Ordens hinausging und eine fictive Welt' des Guten, ein Vorbild der spätern
Ritter vom Geist, der wirklichen Welt entgegensetzte. Wenn die Schlegel später
auf das Mittelalter, ans den Katholicismus, aus Indien zurückgingen, so vertraten
diese neuen Spielräume der Phantasie nur die Stelle des bekanntern und daher
schon trivial gewordenen classischen Alterthums; sie gehörten aber derselben senti¬
mentalen Richtung an, die, unfähig, dem Reich der Ideale einen eigenthümlichen
Ausdruck zu geben, uuter den Wundern beider Hemisphären > herumstöberte, um
für ihren neuen Tempel die Bausteine zusammenzufinden.

Die Schlacht bei Jena war, wie schon gesagt, der electrische Schlag, der
im Bewußtsein der gesanunten Nation eine totale Widergebnrt Hervorries. Die'
harten Schläge, die das deutsche Volk erlitt, zeigten ihm, daß das lustige Schloß
der Ideale keine sichere Behausung sei, und daß es selbst, um mir ruhig
schwärmen zu können, sich erst zu Hause sicher einrichten müsse. Man erkannte
eS als die wahre Aufgabe der Kunst, dem wirklichen Leben einen idealen Cha¬
rakter zu geben. Zu diesem Zweck mußte sie sich aber erst in das wirkliche
Leben vertiefen. Das wirkliche Leben konnte kein anderes sein, als die Natio¬
nalität, wie sie sich geschichtlich individuell entwickelt hatte. Auf diese Weise
hängt der Germanismus, die Reaction gegen die Antike und das Weltbürger-
thum mit dem zusammen, was wir früher als Identitätsphilosophie bezeichnet haben.
Das Reich des Guten, Schönen und Idealen muß da gesucht werden, wo man
sich befindet. Das war in beiden Gebieten der leitende Grundsatz; ein sehr rich¬
tiger Grundsatz, der aber nnr zu bald wieder auf die seltsamsten Abwege führte.

Früher hatte sowol die Partei der französischen Aufklärung, als die Partei
der deutschen Kunst das, was sie billigen konnte, nach einem allzu strengen und
einseitigen Maßstab gemessen. Die Aufklärung erkannte nichts Irrationelles an,
obgleich schon ihre LieblingSwissenschaft, die Mathematik, sie hätte überführen
können, daß man unter Umständen allerdings mit irrationeller Größen rechnen
muß; die absolute Kunst hatte keine Form gelten lassen, die ihren typischen Vor¬
stellungen widersprach, obgleich doch selbst die Musik Dissonanzen zu verwerthen
weiß. Wenn die Reaction gegen diese Einseitigkeiten also dabei stehen geblieben
wäre, das Jrratiouelle und das Dissonirende als aufzulösende Momente in Wissen¬
schaft und Kunst einzuführen, so wäre der Gewinn ein unbestreitbarer gewesen.
Aber es lag die Neigung zu nahe, das Verhältniß umzukehren, und das, was
früher verworfen war, als das allein Berechtigte darzustellen. Wenn im frühern
Lehrbuch der Aesthetik das Schöne als nicht wirklich und das Wirkliche als nicht
schön aufgefaßt war, so war man jetzt im Gegentheil geneigt, zu behaupten, alles
Wirkliche, d. h. alles in der zufälligen Erfahrung Wahrgenommene, sei schön,


die Aufgabe der übrigen Künste, ein schönes Bild herzustellen; jener Cultus der
Humanität, der das ganze Weltall umfaßte und alle individuellen Unter¬
schiede zu verwischen glaubte; jene Freimaurerei, die weit über die Grenzen dieses
Ordens hinausging und eine fictive Welt' des Guten, ein Vorbild der spätern
Ritter vom Geist, der wirklichen Welt entgegensetzte. Wenn die Schlegel später
auf das Mittelalter, ans den Katholicismus, aus Indien zurückgingen, so vertraten
diese neuen Spielräume der Phantasie nur die Stelle des bekanntern und daher
schon trivial gewordenen classischen Alterthums; sie gehörten aber derselben senti¬
mentalen Richtung an, die, unfähig, dem Reich der Ideale einen eigenthümlichen
Ausdruck zu geben, uuter den Wundern beider Hemisphären > herumstöberte, um
für ihren neuen Tempel die Bausteine zusammenzufinden.

Die Schlacht bei Jena war, wie schon gesagt, der electrische Schlag, der
im Bewußtsein der gesanunten Nation eine totale Widergebnrt Hervorries. Die'
harten Schläge, die das deutsche Volk erlitt, zeigten ihm, daß das lustige Schloß
der Ideale keine sichere Behausung sei, und daß es selbst, um mir ruhig
schwärmen zu können, sich erst zu Hause sicher einrichten müsse. Man erkannte
eS als die wahre Aufgabe der Kunst, dem wirklichen Leben einen idealen Cha¬
rakter zu geben. Zu diesem Zweck mußte sie sich aber erst in das wirkliche
Leben vertiefen. Das wirkliche Leben konnte kein anderes sein, als die Natio¬
nalität, wie sie sich geschichtlich individuell entwickelt hatte. Auf diese Weise
hängt der Germanismus, die Reaction gegen die Antike und das Weltbürger-
thum mit dem zusammen, was wir früher als Identitätsphilosophie bezeichnet haben.
Das Reich des Guten, Schönen und Idealen muß da gesucht werden, wo man
sich befindet. Das war in beiden Gebieten der leitende Grundsatz; ein sehr rich¬
tiger Grundsatz, der aber nnr zu bald wieder auf die seltsamsten Abwege führte.

Früher hatte sowol die Partei der französischen Aufklärung, als die Partei
der deutschen Kunst das, was sie billigen konnte, nach einem allzu strengen und
einseitigen Maßstab gemessen. Die Aufklärung erkannte nichts Irrationelles an,
obgleich schon ihre LieblingSwissenschaft, die Mathematik, sie hätte überführen
können, daß man unter Umständen allerdings mit irrationeller Größen rechnen
muß; die absolute Kunst hatte keine Form gelten lassen, die ihren typischen Vor¬
stellungen widersprach, obgleich doch selbst die Musik Dissonanzen zu verwerthen
weiß. Wenn die Reaction gegen diese Einseitigkeiten also dabei stehen geblieben
wäre, das Jrratiouelle und das Dissonirende als aufzulösende Momente in Wissen¬
schaft und Kunst einzuführen, so wäre der Gewinn ein unbestreitbarer gewesen.
Aber es lag die Neigung zu nahe, das Verhältniß umzukehren, und das, was
früher verworfen war, als das allein Berechtigte darzustellen. Wenn im frühern
Lehrbuch der Aesthetik das Schöne als nicht wirklich und das Wirkliche als nicht
schön aufgefaßt war, so war man jetzt im Gegentheil geneigt, zu behaupten, alles
Wirkliche, d. h. alles in der zufälligen Erfahrung Wahrgenommene, sei schön,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/258>, abgerufen am 22.12.2024.