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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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lieben Gott eine Welt der Einbildung entgegenzustellen, wie sie eigentlich hätte
sein sollen, und wozu sie nur durch die Unfähigkeit des Schöpfers sich nicht hat
erheben können. Darüber darf man aber nicht übersehen, daß vorläufig nur die
Intention die bessere ist, daß aber die voreilige, vermessene Ausführung des
richtigen Princips zu viel größeren Absurditäten führen kann, als die naive und
ehrliche Ausführung eines an sich fehlerhaften Princips. Als ein schlagendes
Beispiel "können wir die beiden Theile des Faust betrachten. Der erste Theil
gehört offenbar der Periode des transscendentalen Idealismus, der zweite, so wie
bereits der Prolog des ersten, der Periode der Identitätsphilosophie an. Nun
ist es freilich viel richtiger, die Irrungen des menschlichen Geistes nur-als ein
Uebergangsmoment zur Vervollkommnung zu betrachten, wie es im zweiten Theile
geschieht, als sie wie eine Anklage gegen Gott hinzustellen, und in sofern kann
man sagen, daß seiner Intention nach der zweite Theil des Faust einer hohem
Bildungsstufe angehört, als der erste. Ueber das wirkliche Werthverhältniß dieser
beiden Gedichte wird aber-kein Zweifel obwalten. Im ersten Theil wird der
freilich unvollkommene Standpunkt der Bildung, so weit das bei einer in's Uner¬
meßliche hinüberstreifcndcn Frage überhaupt möglich ist, klar und präcis aus-
gedrückt; im zweiten dagegen geht über der vollständigen Verwirrung und Unklar¬
heit der 'Ausführung der richtige Grundgedanke verloren. Ein ganz ähnliches
Verhältniß besteht zwischen Fichte's "Bestimmung des Menschen" und Hegel's
"Phänomenologie." Daraus ist zu erklären, daß in einer spätern Periode die
alte scheinbar überwundene Sentimentalität in der neuen Form des Weltschmerzes
sich noch einmal, und zwar viel lauter und anspruchsvoller als vorher geltend machte,
daß Byron, Heine und die Ausgeburten des Socialismus in einer Zeit die
Literatur beherrschen konnte", wo man doch schon gelernt hatte, daß Vernunft
und Wirklichkeit zwei Begriffe sind, die nnr zusammen gedacht werden können.
Freilich hatte man diesen allgemeinen Salz gehört, aber er war nicht wirklich
ausgeführt worden, er hatte vielmehr in dem Versuch seiner Ausführung zu Con¬
flicten geführt, die noch viel wunderlicher aussahen, M die Sentimentalität der
früheren Periode, z. B. zu den Doctrinen der historischen Schule, einem realen
Ausfluß der "Jdeuritätsphilosophie.

Wir müssen noch eiuen Augenblick bei jener Periode der Sentimentalität
stehen bleiben. Alle unsre Denker und Dichter waren darin befangen. Was
Rousseau in seinem Emile, seiner Heloise und seinem Gesellschaftsvertrag, freilich
mit größerer Leidenschaft und in popnlaireren Formen, als Evangelium der Welt
verkündet hatte, war von der deutscheu Philosophie, namentlich von Kant und
Fichte, der Sache nach mit einer viel größern Konsequenz durchgeführt worden.
Sie hatten die sogenannte Wirklichkeit nicht blos als ein Unrecht gegen die
'Ideale des Herzens und deS Verstandes, sondern geradezu als einen Aberglauben
.der Phantasie in das Reich der Schatten zu verbannen, und nach der Zer-


lieben Gott eine Welt der Einbildung entgegenzustellen, wie sie eigentlich hätte
sein sollen, und wozu sie nur durch die Unfähigkeit des Schöpfers sich nicht hat
erheben können. Darüber darf man aber nicht übersehen, daß vorläufig nur die
Intention die bessere ist, daß aber die voreilige, vermessene Ausführung des
richtigen Princips zu viel größeren Absurditäten führen kann, als die naive und
ehrliche Ausführung eines an sich fehlerhaften Princips. Als ein schlagendes
Beispiel «können wir die beiden Theile des Faust betrachten. Der erste Theil
gehört offenbar der Periode des transscendentalen Idealismus, der zweite, so wie
bereits der Prolog des ersten, der Periode der Identitätsphilosophie an. Nun
ist es freilich viel richtiger, die Irrungen des menschlichen Geistes nur-als ein
Uebergangsmoment zur Vervollkommnung zu betrachten, wie es im zweiten Theile
geschieht, als sie wie eine Anklage gegen Gott hinzustellen, und in sofern kann
man sagen, daß seiner Intention nach der zweite Theil des Faust einer hohem
Bildungsstufe angehört, als der erste. Ueber das wirkliche Werthverhältniß dieser
beiden Gedichte wird aber-kein Zweifel obwalten. Im ersten Theil wird der
freilich unvollkommene Standpunkt der Bildung, so weit das bei einer in's Uner¬
meßliche hinüberstreifcndcn Frage überhaupt möglich ist, klar und präcis aus-
gedrückt; im zweiten dagegen geht über der vollständigen Verwirrung und Unklar¬
heit der 'Ausführung der richtige Grundgedanke verloren. Ein ganz ähnliches
Verhältniß besteht zwischen Fichte's „Bestimmung des Menschen" und Hegel's
„Phänomenologie." Daraus ist zu erklären, daß in einer spätern Periode die
alte scheinbar überwundene Sentimentalität in der neuen Form des Weltschmerzes
sich noch einmal, und zwar viel lauter und anspruchsvoller als vorher geltend machte,
daß Byron, Heine und die Ausgeburten des Socialismus in einer Zeit die
Literatur beherrschen konnte», wo man doch schon gelernt hatte, daß Vernunft
und Wirklichkeit zwei Begriffe sind, die nnr zusammen gedacht werden können.
Freilich hatte man diesen allgemeinen Salz gehört, aber er war nicht wirklich
ausgeführt worden, er hatte vielmehr in dem Versuch seiner Ausführung zu Con¬
flicten geführt, die noch viel wunderlicher aussahen, M die Sentimentalität der
früheren Periode, z. B. zu den Doctrinen der historischen Schule, einem realen
Ausfluß der "Jdeuritätsphilosophie.

Wir müssen noch eiuen Augenblick bei jener Periode der Sentimentalität
stehen bleiben. Alle unsre Denker und Dichter waren darin befangen. Was
Rousseau in seinem Emile, seiner Heloise und seinem Gesellschaftsvertrag, freilich
mit größerer Leidenschaft und in popnlaireren Formen, als Evangelium der Welt
verkündet hatte, war von der deutscheu Philosophie, namentlich von Kant und
Fichte, der Sache nach mit einer viel größern Konsequenz durchgeführt worden.
Sie hatten die sogenannte Wirklichkeit nicht blos als ein Unrecht gegen die
'Ideale des Herzens und deS Verstandes, sondern geradezu als einen Aberglauben
.der Phantasie in das Reich der Schatten zu verbannen, und nach der Zer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/256>, abgerufen am 22.12.2024.