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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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führte. Im Jahr 1823' verheiratete er sich und zog sich in die ländliche Ein¬
samkeit zurück, wo er seine späteren Versuche vorbereitete.

Das Studium der deutschen Dichter und Philosophen war in dieser Zeit
die vorzüglichste Nahrung für sein Denken und Empfinden. Was er hauptsächlich
an ihnen, namentlich an den letzten, schätzte, war nicht die systematische Strenge
und Folgerichtigkeit in der Verbindung der einzelnen Gedanken, sondern der große
Sinn, mit dem sie das Leben und die das Leben bewegenden Ideen, ganz abge¬
sehen von ihren endlichen Beziehungen, auffaßten. Eben so wie Kant das Geistige
des Menschen als ein auf sich selbst beruhendes Dasein über die endlichen Be¬
dingungen entrückte, in welchen es die materialistischen Philosophen befangen hielten,
gab.Goethe der Natur und der Individualität jene lebendige Farbe, die in den
Abstractionen der vorhergehenden Periode fast vollständig verloren gegangen war.
Dies waren die Vorbilder, die Carlyle auf seine Art verarbeitete. Die großen
Gedanken des Philosophen übersetzte er aus ihrer abstracten Form in concrete,
individuelle Anschauungen, in Geschichten, psychologische Erscheinungen, in Anec-
doten und praktische Regeln, und in den schonen Bildern des deutschen Dichters
suchte er die allgemeinen Gedanken heraus. Das Leben Schiller's war zwar ei¬
gentlich für die Engländer berechnet, denen in dem deutschen Idealismus ein
erhebendes Vorbild vorgestellt werden sollte, allein es ist auch noch immer für
uns sehr lehrreich, da man gerade aus der Ferne, wenn man nur Liebe und
Interesse mitbringt, die Proportionen einer bedeutenden Erscheinung richtiger er¬
mißt und ihren tiefern Sinn schärfer würdigt, als'es aus der Nähe geschehen
kann. Zwar findet sich auch in diesem Buch schon vieles Räthselhafte, Unklare
und Verworrene, aber doch im Ganzen viel weniger, als in seinen späteren Schrif¬
ten, und Goethe's anerkennendes Urtheil war vollkommen gerechtfertigt, wenn man
auch nicht läugnen kann, daß Goethe nur zu geneigt war, was im Auslande über
ihn und seine Mitstrebenden geschrieben wurde, mehr zu beachten, als die Stimmen
seiner eigenen Nation.

Im Jahr 1830 begab sich Carlyle nach London und wurde ein eifriger Mit¬
arbeiter an Fraser's Magazin. In .diesem erschien sein sartor rssartus, ein
Buch, dessen Inhalt eben so wunderlich ist, als sein Titel. Es ist eine Art Samm¬
lung biographischer Reminiscenzen, aber durch Dichtung unterbrochen und in jener
Dämmerung gehalten, wie etwa Hegel's Phänomenologie. Man wird von vielen
schönen Zügen des individuellen Lebens überrascht, und den Glaubensbekenntnissen,
mit denen das Buch überfüllt ist, fehlen auch die Gedanken nicht; aber sie haben
nicht den correcten Ausdruck gefunden, der sie allein zu wirklichen, fruchtbaren
Gedanken macht; sie geben Räthsel auf, wo sie Räthsel lösen sollten. Die . Unab¬
hängigkeit nicht nur der Religion, sondern auch der staatlichen Einrichtungen,
z. B. der Aristokratie, von den endlichen Berechnungen des klügelnden Verstandes
und ihr naturwüchsiges Entstehen wird mit großem Ernst und zum Theil auch


führte. Im Jahr 1823' verheiratete er sich und zog sich in die ländliche Ein¬
samkeit zurück, wo er seine späteren Versuche vorbereitete.

Das Studium der deutschen Dichter und Philosophen war in dieser Zeit
die vorzüglichste Nahrung für sein Denken und Empfinden. Was er hauptsächlich
an ihnen, namentlich an den letzten, schätzte, war nicht die systematische Strenge
und Folgerichtigkeit in der Verbindung der einzelnen Gedanken, sondern der große
Sinn, mit dem sie das Leben und die das Leben bewegenden Ideen, ganz abge¬
sehen von ihren endlichen Beziehungen, auffaßten. Eben so wie Kant das Geistige
des Menschen als ein auf sich selbst beruhendes Dasein über die endlichen Be¬
dingungen entrückte, in welchen es die materialistischen Philosophen befangen hielten,
gab.Goethe der Natur und der Individualität jene lebendige Farbe, die in den
Abstractionen der vorhergehenden Periode fast vollständig verloren gegangen war.
Dies waren die Vorbilder, die Carlyle auf seine Art verarbeitete. Die großen
Gedanken des Philosophen übersetzte er aus ihrer abstracten Form in concrete,
individuelle Anschauungen, in Geschichten, psychologische Erscheinungen, in Anec-
doten und praktische Regeln, und in den schonen Bildern des deutschen Dichters
suchte er die allgemeinen Gedanken heraus. Das Leben Schiller's war zwar ei¬
gentlich für die Engländer berechnet, denen in dem deutschen Idealismus ein
erhebendes Vorbild vorgestellt werden sollte, allein es ist auch noch immer für
uns sehr lehrreich, da man gerade aus der Ferne, wenn man nur Liebe und
Interesse mitbringt, die Proportionen einer bedeutenden Erscheinung richtiger er¬
mißt und ihren tiefern Sinn schärfer würdigt, als'es aus der Nähe geschehen
kann. Zwar findet sich auch in diesem Buch schon vieles Räthselhafte, Unklare
und Verworrene, aber doch im Ganzen viel weniger, als in seinen späteren Schrif¬
ten, und Goethe's anerkennendes Urtheil war vollkommen gerechtfertigt, wenn man
auch nicht läugnen kann, daß Goethe nur zu geneigt war, was im Auslande über
ihn und seine Mitstrebenden geschrieben wurde, mehr zu beachten, als die Stimmen
seiner eigenen Nation.

Im Jahr 1830 begab sich Carlyle nach London und wurde ein eifriger Mit¬
arbeiter an Fraser's Magazin. In .diesem erschien sein sartor rssartus, ein
Buch, dessen Inhalt eben so wunderlich ist, als sein Titel. Es ist eine Art Samm¬
lung biographischer Reminiscenzen, aber durch Dichtung unterbrochen und in jener
Dämmerung gehalten, wie etwa Hegel's Phänomenologie. Man wird von vielen
schönen Zügen des individuellen Lebens überrascht, und den Glaubensbekenntnissen,
mit denen das Buch überfüllt ist, fehlen auch die Gedanken nicht; aber sie haben
nicht den correcten Ausdruck gefunden, der sie allein zu wirklichen, fruchtbaren
Gedanken macht; sie geben Räthsel auf, wo sie Räthsel lösen sollten. Die . Unab¬
hängigkeit nicht nur der Religion, sondern auch der staatlichen Einrichtungen,
z. B. der Aristokratie, von den endlichen Berechnungen des klügelnden Verstandes
und ihr naturwüchsiges Entstehen wird mit großem Ernst und zum Theil auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/234>, abgerufen am 03.01.2025.