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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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ternheit und Alltäglichkeit identificirt, während es doch eine ausgemachte Sache
ist, daß der leidenschaftlichste Denker auch der am meisten logische sein wird, d.h.
daß nur derjenige einen energischen Gedankengang verfolgen kann, bei dem die
Wahrheit, mit'der er sich beschäftigt, zur Herzenssache geworden ist. Die nur
zersetzende Kraft des Verstandes reicht für eine logische Deduction von Bedeu¬
tung eben so wenig aus, als für ein Kunstwerk. Statt dessen hat man jetzt aber
gefunden, daß eine gewisse reizende Unordnung und Verwirrung der Gedanken
für die höhere Prosa eben so nothwendig ist, als für die Poesie. Man macht
Spaziergänge, nicht um eiy bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern um des Weges
willen. Auf diesem Wege giebt es allerdings Gelegenheit zu glänzenderen Apercus,
und eine Art von sorgloser Gemüthlichkeit, mit der man den Gedanken freies
Spiel verstattet, hat für eine begabte, aber nicht sorgfältig disciplinirte Natur
etwas Reizendes; allein aus die Dauer wirkt doch die Zwecklosigkeit ermüdend.
Welche von Carlyle's Schriften man auch ausschlägt, man wird immer durch
geistreiche Einfälle, durch ungewöhnliche Gesichtspunkte überrascht, aber es fällt
sehr schwer, eins dieser Bücher zu Ende zu bringen, denn wir verlangen, und
zwar mit Recht, von einer raisonnirenden Abhandlung, die nämliche Spannung,
die nämliche Continuität und Einheit des Interesses, wie bei einem Roman.
Wenn uns in dem letztern die Geschichte fesseln soll, so muß es im erstem der
leitende Gedanke thun. Zwecklose Episoden, so werthvoll sie an sich sein mögen,
stören in dem einen wie in dem andern Falle.

Ein rechter Patriot sollte zwar eine gewisse Genugthuung darüber empfin¬
den, daß er die Sitten seines deutschen Vaterlandes in einem gefeierten Namen
des stolzen England so deutlich wieder erkennt. Wir haben diesen Patriotismus
nicht. Wenn wir in jenem Mangel an Disciplin, in jener Styllosigkeit eins der
Erbübel der deutschen Literatur begreifen, so gewährt es uns keinen Trost, wenn
wir die Engländer demselben Fehler verfallen sehen. Ja -wir fühlen gerade in
der fremden Copie die Fehler des Originals viel lebhafter heraus.

Allein man würde sehr einseitig urtheilen, wenn man bei diesen Fehlern
allein stehen bliebe. Carlyle hat.auf der andern Seite sehr segensreich gewirkt.
Es lag sowol in dem kirchlichen System der herrschenden Religiosität und in
dem düstern Puritanismus, als in der materiellen Philosophie, welche diese
'Rechtgläubigkeit ergänzte, etwas unerhört Engherziges und Trocknes, und die
Anstrengungen Carlyle's gegen dieses System haben wenigstens dem Gefühl einen
freiern Ausdruck, der Idee einen weitern Horizont gegeben. Die Philosophie,
welche damals in England, als Carlyle zum ersten Mal öffentlich auftrat, also etwa im
Jahr 1823, neben dem kirchlichen System herging, war die Nützlichkeitsphilosophie
Bentham's. Von dem höchsten Standpunkte des Denkens aus muß man zwar dieses
Princip der Nützlichkeit wieder in seine Rechte Herstellen, denn was an sich gut ist,
muß auch in seinen Wirkungen gut, mit anderen Worten, nützlich sein, aber die Art


ternheit und Alltäglichkeit identificirt, während es doch eine ausgemachte Sache
ist, daß der leidenschaftlichste Denker auch der am meisten logische sein wird, d.h.
daß nur derjenige einen energischen Gedankengang verfolgen kann, bei dem die
Wahrheit, mit'der er sich beschäftigt, zur Herzenssache geworden ist. Die nur
zersetzende Kraft des Verstandes reicht für eine logische Deduction von Bedeu¬
tung eben so wenig aus, als für ein Kunstwerk. Statt dessen hat man jetzt aber
gefunden, daß eine gewisse reizende Unordnung und Verwirrung der Gedanken
für die höhere Prosa eben so nothwendig ist, als für die Poesie. Man macht
Spaziergänge, nicht um eiy bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern um des Weges
willen. Auf diesem Wege giebt es allerdings Gelegenheit zu glänzenderen Apercus,
und eine Art von sorgloser Gemüthlichkeit, mit der man den Gedanken freies
Spiel verstattet, hat für eine begabte, aber nicht sorgfältig disciplinirte Natur
etwas Reizendes; allein aus die Dauer wirkt doch die Zwecklosigkeit ermüdend.
Welche von Carlyle's Schriften man auch ausschlägt, man wird immer durch
geistreiche Einfälle, durch ungewöhnliche Gesichtspunkte überrascht, aber es fällt
sehr schwer, eins dieser Bücher zu Ende zu bringen, denn wir verlangen, und
zwar mit Recht, von einer raisonnirenden Abhandlung, die nämliche Spannung,
die nämliche Continuität und Einheit des Interesses, wie bei einem Roman.
Wenn uns in dem letztern die Geschichte fesseln soll, so muß es im erstem der
leitende Gedanke thun. Zwecklose Episoden, so werthvoll sie an sich sein mögen,
stören in dem einen wie in dem andern Falle.

Ein rechter Patriot sollte zwar eine gewisse Genugthuung darüber empfin¬
den, daß er die Sitten seines deutschen Vaterlandes in einem gefeierten Namen
des stolzen England so deutlich wieder erkennt. Wir haben diesen Patriotismus
nicht. Wenn wir in jenem Mangel an Disciplin, in jener Styllosigkeit eins der
Erbübel der deutschen Literatur begreifen, so gewährt es uns keinen Trost, wenn
wir die Engländer demselben Fehler verfallen sehen. Ja -wir fühlen gerade in
der fremden Copie die Fehler des Originals viel lebhafter heraus.

Allein man würde sehr einseitig urtheilen, wenn man bei diesen Fehlern
allein stehen bliebe. Carlyle hat.auf der andern Seite sehr segensreich gewirkt.
Es lag sowol in dem kirchlichen System der herrschenden Religiosität und in
dem düstern Puritanismus, als in der materiellen Philosophie, welche diese
'Rechtgläubigkeit ergänzte, etwas unerhört Engherziges und Trocknes, und die
Anstrengungen Carlyle's gegen dieses System haben wenigstens dem Gefühl einen
freiern Ausdruck, der Idee einen weitern Horizont gegeben. Die Philosophie,
welche damals in England, als Carlyle zum ersten Mal öffentlich auftrat, also etwa im
Jahr 1823, neben dem kirchlichen System herging, war die Nützlichkeitsphilosophie
Bentham's. Von dem höchsten Standpunkte des Denkens aus muß man zwar dieses
Princip der Nützlichkeit wieder in seine Rechte Herstellen, denn was an sich gut ist,
muß auch in seinen Wirkungen gut, mit anderen Worten, nützlich sein, aber die Art


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/232>, abgerufen am 22.12.2024.