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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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doch die Elemente, welche den reißenden Einbruch der italienisch-französischen Um¬
wälzung über ganz Mitteleuropa herbeiführten. Hier war von keiner nationalen
Emancipation die Rede, wo eine alte und stolze Nationalität, zwar tief herab-
gekommen von dem Gipfel früherer Große, unangetastet in ihrem natürlichen Be¬
stände existirte. Die socialistischen Ideen onem von der öffentlichen Meinung
nicht gekannt, nicht gepflegt von der Literatur, höchstens vorhanden in einigen
obscurer und einflußloser Individuen. Kein zahlreiches und hilfsbedürftiges
Proletariat bot sich einer Demagogie dar, welche Herzen und Köpfe der Massen
mit den Versprechungen einer neuen, Armuth und Unwissenheit ausscheidenden
Weltordnung erhitzen konnte. Der revolutionäre Strom endlich war seit i bis
3 Jahren im zunehmenden Versiegen nnter einer Regierung, welche, wenn auch
oft hart und willkürlich, dem Volke doch die wesentlichen, liberalen Institu¬
tionen, die Frucht dreißigjähriger politischer Kämpfe, und damit die Aussicht
legalen Fortschreitens ließ, und durch die energisch gewahrte äußere Ordnung den
lange gedrückten materiellen Interessen Gelegenheit' des Aufschwungs gab. Das
herrschende System mochte fehlerhaft sein, es war in den Augen des besten Theils
der Nation nicht hoffnungslos. Nicht, daß etwa die Gefahr nicht noch immer
groß gewesen wäre. Alter Parteihaß und neue Parteihoffnungen hoben sich aus
5er Ermattung einer langen Niederlage empor. Die Armee, wenn auch seit 4
Jahren weit fortgeschritten in Organisation und Disciplin, war noch lange nicht
gesichert vor der Ansteckung politischer Leidenschaften und revolutionairer Ver¬
führung. Der Beamtenstand war dnrch lange Wechsel und Schwankungen geneigt,
der Sonne des ueuaufgeheuden Erfolgs sich zuzuwenden und die Pflicht dem
persönlichen Interesse nachzusetzen. Der Hof war so erschrocken und rathlos,
wie die Macht es immer ist, wenn in der Stunde furchtbarer Krisen die politi¬
schen Sünden des lange verstummten Gewissens, wie drohende Gespenster, sich
erheben und das dumpfe Murren der Volkswogen sich vernehmbar macht. Frem¬
der Einfluß arbeitete geschäftig mit diesen Elementen der Unordnung an den
schwachen Seiten des Bestehenden. Aber Ein mächtiges Hinderniß stemmte sich
dem vereinigten Andrang aller dieser Gefahren entgegen, der unbezwingliche
Muth des Narvaez und sein unerschütterlicher Wille.
'

Die Nachricht von dem jähen Fall des französischen Königshauses und
der republikanisch-socialistischen Explosion, die mit Blitzesschnelle ganz Frankreich
mit sich fortriß, versetzte Madrid in die fieberhafteste Aufregung, die Männer
der Regierungspartei, vor allem aber die Königin-Mutter und ihren Anhang in
dumpfe Bestürzung. Marie Christine verhehlte sich nicht, welche Antipathien im
Volke gegen sie verbreitet waren, sie sah ein zweites Exil im Anzüge, dauernder
und trauriger, als das erste. Männer wie Martinez de la Rosa riethen zu Con¬
cessionen. Cortina, der Chef der gemäßigteren Progressisten, ward in den Palast
gerufen und hatte verschiedene Besprechungen mit der Königin-Mutter. Mitten in


doch die Elemente, welche den reißenden Einbruch der italienisch-französischen Um¬
wälzung über ganz Mitteleuropa herbeiführten. Hier war von keiner nationalen
Emancipation die Rede, wo eine alte und stolze Nationalität, zwar tief herab-
gekommen von dem Gipfel früherer Große, unangetastet in ihrem natürlichen Be¬
stände existirte. Die socialistischen Ideen onem von der öffentlichen Meinung
nicht gekannt, nicht gepflegt von der Literatur, höchstens vorhanden in einigen
obscurer und einflußloser Individuen. Kein zahlreiches und hilfsbedürftiges
Proletariat bot sich einer Demagogie dar, welche Herzen und Köpfe der Massen
mit den Versprechungen einer neuen, Armuth und Unwissenheit ausscheidenden
Weltordnung erhitzen konnte. Der revolutionäre Strom endlich war seit i bis
3 Jahren im zunehmenden Versiegen nnter einer Regierung, welche, wenn auch
oft hart und willkürlich, dem Volke doch die wesentlichen, liberalen Institu¬
tionen, die Frucht dreißigjähriger politischer Kämpfe, und damit die Aussicht
legalen Fortschreitens ließ, und durch die energisch gewahrte äußere Ordnung den
lange gedrückten materiellen Interessen Gelegenheit' des Aufschwungs gab. Das
herrschende System mochte fehlerhaft sein, es war in den Augen des besten Theils
der Nation nicht hoffnungslos. Nicht, daß etwa die Gefahr nicht noch immer
groß gewesen wäre. Alter Parteihaß und neue Parteihoffnungen hoben sich aus
5er Ermattung einer langen Niederlage empor. Die Armee, wenn auch seit 4
Jahren weit fortgeschritten in Organisation und Disciplin, war noch lange nicht
gesichert vor der Ansteckung politischer Leidenschaften und revolutionairer Ver¬
führung. Der Beamtenstand war dnrch lange Wechsel und Schwankungen geneigt,
der Sonne des ueuaufgeheuden Erfolgs sich zuzuwenden und die Pflicht dem
persönlichen Interesse nachzusetzen. Der Hof war so erschrocken und rathlos,
wie die Macht es immer ist, wenn in der Stunde furchtbarer Krisen die politi¬
schen Sünden des lange verstummten Gewissens, wie drohende Gespenster, sich
erheben und das dumpfe Murren der Volkswogen sich vernehmbar macht. Frem¬
der Einfluß arbeitete geschäftig mit diesen Elementen der Unordnung an den
schwachen Seiten des Bestehenden. Aber Ein mächtiges Hinderniß stemmte sich
dem vereinigten Andrang aller dieser Gefahren entgegen, der unbezwingliche
Muth des Narvaez und sein unerschütterlicher Wille.
'

Die Nachricht von dem jähen Fall des französischen Königshauses und
der republikanisch-socialistischen Explosion, die mit Blitzesschnelle ganz Frankreich
mit sich fortriß, versetzte Madrid in die fieberhafteste Aufregung, die Männer
der Regierungspartei, vor allem aber die Königin-Mutter und ihren Anhang in
dumpfe Bestürzung. Marie Christine verhehlte sich nicht, welche Antipathien im
Volke gegen sie verbreitet waren, sie sah ein zweites Exil im Anzüge, dauernder
und trauriger, als das erste. Männer wie Martinez de la Rosa riethen zu Con¬
cessionen. Cortina, der Chef der gemäßigteren Progressisten, ward in den Palast
gerufen und hatte verschiedene Besprechungen mit der Königin-Mutter. Mitten in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/222>, abgerufen am 22.12.2024.