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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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riß des Zeitalters nachzuweisen sucht. 'Vieles in seinen Vorwürfen stimmt mit
dem überein, was schon früher von Novalis, so wie von Pustkuchen gegen den
Lieblingsdichter der Nation aufgestellt war. Der eine hatte vom Standpunkt
der supranaturalistischen Mystik den Dichter als Enthciliger der Poesie angeklagt,
weil er die tiefgeheimnißvolle Romantik des Herzens, die er sehr wohl zu em¬
pfinden im Stande war, dem ganz trivialen Weltlauf aufgeopfert habe, der
Andere hat im Gegentheil im Namen des gesunden Menschenverstandes und des
natürlichen christlichen Gefühls gegen Goethe's Individualismus geeifert, der zu
Gunsten einer selbstgefälligen Schönseeligkeit dem Gesetz und der Sitte Trotz ge¬
boten habe. So entgegengesetzt diese Standpunkte siud, so fallen sie doch in
ihren Resultaten häufig zusammen, und Eichendorff vereinigt Beide. Bald greift
er mit rationalistischen Gründen die Willkür des genialen Empfindens an, bald
predigt er im Namen des unsichtbaren Heiligthums gegen eine in das Gesetz
dieser Welt verstrickte Denkweise. Es wird den Verehrern Goethe's schwer wer¬
den, alle diese Vorwürfe zurückzuweisen, abu Eichendorff, wie alle Gegner Goethe's
haben Eines übersehe", daß, so oft sich auch der Dichter in Verhältnisse ein¬
gelassen hat, die er nicht befriedigend zu lösen im Stande war, doch überall sich
eine feste, gesunde und segenbringende Sittlichkeit ausspricht, die in uus das
Gefühl der Schönheit erregt, und daß, wenn er eine individuelle Krankheits¬
geschichte darstellte, er sich sehr wohl darüber bewußt war, daß er es mit
einer Krankheit zu thun hatte. Das ist einer von den 'wesentlichen Unterschieden
zwischen Goethe und unsrer jüngern Literatur.

Vollends thöricht ist es aber, was man an Goethe mißbilligt, aus dem Pro¬
testantismus herzuleiten. Unter allen größeren Dichtern der neuern Zeit spricht
sich der Geist des Protestantismus in keinem sowenig aus, als in Goethe; denn
der Protestantismus ist nicht blos etwas Negatives, er hat einen sehr bestimmten
Inhalt des Glaubens, und dieser ist der Spinozistischen Denkart, die Goethe's
Lebcnsatmosphäre bildete, geradezu entgegengesetzt, viel mehr entgegengesetzt, als
der Katholicismus. '

Aus der allgemeinen Anklage gegen eine ganze große Periode der Literatur
wird um so weniger, je mehr man sich bestreb^, die Verirrungen derselben aus
einer gemeinschaftlichen Quelle herzuleiten. Man verirrt sich nicht nnr mit seiner
Reflexion in unfruchtbare Sophismen, man wird zuletzt auch vollständig blind
gegen die Thatsachen. Der katholisch gebliebene Theil Deutschlands hat in der
Literatur so gut wie gar Nichts zu Tage gefördert, und das katholische Frankreich
hat die Anarchie in den Ideen, über welche sich Eichendorff so bitter beklagt, auf
eine viel schlimmere Weise gefordert, als unsre moderne Kritik, während das
protestantische England trotz aller Auswüchse im Einzelnen den festen sittlichen
Stamm seines Volkscharakters niemals verlassen hat.

Es ist überhaupt Zeit, daß die Kritik ihre allgemein gehaltenen Kategorien


riß des Zeitalters nachzuweisen sucht. 'Vieles in seinen Vorwürfen stimmt mit
dem überein, was schon früher von Novalis, so wie von Pustkuchen gegen den
Lieblingsdichter der Nation aufgestellt war. Der eine hatte vom Standpunkt
der supranaturalistischen Mystik den Dichter als Enthciliger der Poesie angeklagt,
weil er die tiefgeheimnißvolle Romantik des Herzens, die er sehr wohl zu em¬
pfinden im Stande war, dem ganz trivialen Weltlauf aufgeopfert habe, der
Andere hat im Gegentheil im Namen des gesunden Menschenverstandes und des
natürlichen christlichen Gefühls gegen Goethe's Individualismus geeifert, der zu
Gunsten einer selbstgefälligen Schönseeligkeit dem Gesetz und der Sitte Trotz ge¬
boten habe. So entgegengesetzt diese Standpunkte siud, so fallen sie doch in
ihren Resultaten häufig zusammen, und Eichendorff vereinigt Beide. Bald greift
er mit rationalistischen Gründen die Willkür des genialen Empfindens an, bald
predigt er im Namen des unsichtbaren Heiligthums gegen eine in das Gesetz
dieser Welt verstrickte Denkweise. Es wird den Verehrern Goethe's schwer wer¬
den, alle diese Vorwürfe zurückzuweisen, abu Eichendorff, wie alle Gegner Goethe's
haben Eines übersehe», daß, so oft sich auch der Dichter in Verhältnisse ein¬
gelassen hat, die er nicht befriedigend zu lösen im Stande war, doch überall sich
eine feste, gesunde und segenbringende Sittlichkeit ausspricht, die in uus das
Gefühl der Schönheit erregt, und daß, wenn er eine individuelle Krankheits¬
geschichte darstellte, er sich sehr wohl darüber bewußt war, daß er es mit
einer Krankheit zu thun hatte. Das ist einer von den 'wesentlichen Unterschieden
zwischen Goethe und unsrer jüngern Literatur.

Vollends thöricht ist es aber, was man an Goethe mißbilligt, aus dem Pro¬
testantismus herzuleiten. Unter allen größeren Dichtern der neuern Zeit spricht
sich der Geist des Protestantismus in keinem sowenig aus, als in Goethe; denn
der Protestantismus ist nicht blos etwas Negatives, er hat einen sehr bestimmten
Inhalt des Glaubens, und dieser ist der Spinozistischen Denkart, die Goethe's
Lebcnsatmosphäre bildete, geradezu entgegengesetzt, viel mehr entgegengesetzt, als
der Katholicismus. '

Aus der allgemeinen Anklage gegen eine ganze große Periode der Literatur
wird um so weniger, je mehr man sich bestreb^, die Verirrungen derselben aus
einer gemeinschaftlichen Quelle herzuleiten. Man verirrt sich nicht nnr mit seiner
Reflexion in unfruchtbare Sophismen, man wird zuletzt auch vollständig blind
gegen die Thatsachen. Der katholisch gebliebene Theil Deutschlands hat in der
Literatur so gut wie gar Nichts zu Tage gefördert, und das katholische Frankreich
hat die Anarchie in den Ideen, über welche sich Eichendorff so bitter beklagt, auf
eine viel schlimmere Weise gefordert, als unsre moderne Kritik, während das
protestantische England trotz aller Auswüchse im Einzelnen den festen sittlichen
Stamm seines Volkscharakters niemals verlassen hat.

Es ist überhaupt Zeit, daß die Kritik ihre allgemein gehaltenen Kategorien


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/178>, abgerufen am 22.12.2024.