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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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wohnliche Beamtencarrisre ein. 1821 wilde er Regierungsrath in Danzig, dann
nach Königsberg, später nach Berlin versetzt, und hier 1841 zum Geheimen
Regierungsrath im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten ernannt. Außer
den bereits genannten poetischen Werken sind noch zu erwähnen: "Ahnung und
Gegenwart", ein Roman, herausgegeben von Fouquö 1815, mit starkem Her¬
einspielen der Zeittendenzen, aber sür die Charakteristik seines poetischen Schaffens
von weniger Bedeutung, als die kleineren Novellen. Seine Gedichte, die früher
zerstreut erschienen waren, zum großen Theil als Episoden in seinen Novellen,
wurden zuerst 1837 gesammelt. 1841 erschien eine Gesammtausgabe seiner
Werke in vier Bänden. Auch als Uebersetzer hat er sich ausgezeichnet, indem er
das spanische Volksbuch: "Der Graf Lucanor", 1840, und die geistlichen Schau¬
spiele Calderons, 1846, bearbeitete.

In neuester Zeit hat er sich dnrch zwei größere Werke mit einer gewissen
Gereiztheit an der literarischen Polemik der Zeit betheiligt. Es sind die beiden
Schriften: "Ueber die ethische und, religiöse Bedeutung der neuen romantischen
Poesie in Deutschland" und "Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in
seinem Verhältniß zum Christenthum". Er hat den vielfachen Angriffen gegen
die Romantik, die in jener Zeit theils von den rationalistischen Geschichtsschreibern,
theils von der jüngern Schule Hegel's ausgingen, mit einem gewissen Selbst¬
gefühl ein romantisches Glaubensbekenntnis; entgegengesetzt, er hat aber zugleich
die sogenannte romantische Schule und die ganze Kunstperiode, die mit ihr in
Verbindung steht, mit fast eben so großer Lebhaftigkeit angefochten, nicht vom,
Standpunkt des Nationalismus, sondern vom Standpunkt der "wahren" Roman- '
til aus. Sie sind in ihrer Tendenz von, einer unerhörte" Einseitigkeit, und was
die Ausführung betrifft, so findet man von einer gewissenhaften Kritik und selbst
von der gewöhnlichen wissenschaftlichen Gründlichkeit keine Spur; aber sie sind doch
nicht ohne Geist geschrieben, und es ist der Mühe werth, etwas näher darauf
einzugehen, um so mehr, da die von ihm gerügten Uebelstände der deutschen
Literatur nur zu sehr den wirklichen Verhältnissen entsprechen, wenn auch das
von ihm vorgeschlagene Heilmittel Nichts werth ist.

Eichendorff sucht für die Zerfahrenheit in der deutschen Literatur wie im
deutschen Lel-en als erste Quelle den Protestantismus. Sobald mau einmal an¬
gefangen habe, die alten sicheren Stützen des Glaubens umzustoßen und sie durch
das eigene Gefühl zu ersetzen, sei die nothwendige Folge gewesen, daß jedes
Individuum den Mittelpunkt der Welt in sich selber fand, und daß im Denken
wie im Empfinden sich eine chaotische Verwirrung über das glaubenlose Zeitalter
verbreitete. Auf diese Weise findet er nicht blos die Extravaganzen der neuesten
Literatur, sondern auch diejenigen Werke, die wir als die Blüthe unsrer nationalen
Kraft zu betrachten gewohnt sind, im innersten Kern faul und von einer bösen
Krankheit angefressen. Vor allen Dingen ist es Goethe, an dem er die Verderb-


wohnliche Beamtencarrisre ein. 1821 wilde er Regierungsrath in Danzig, dann
nach Königsberg, später nach Berlin versetzt, und hier 1841 zum Geheimen
Regierungsrath im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten ernannt. Außer
den bereits genannten poetischen Werken sind noch zu erwähnen: „Ahnung und
Gegenwart", ein Roman, herausgegeben von Fouquö 1815, mit starkem Her¬
einspielen der Zeittendenzen, aber sür die Charakteristik seines poetischen Schaffens
von weniger Bedeutung, als die kleineren Novellen. Seine Gedichte, die früher
zerstreut erschienen waren, zum großen Theil als Episoden in seinen Novellen,
wurden zuerst 1837 gesammelt. 1841 erschien eine Gesammtausgabe seiner
Werke in vier Bänden. Auch als Uebersetzer hat er sich ausgezeichnet, indem er
das spanische Volksbuch: „Der Graf Lucanor", 1840, und die geistlichen Schau¬
spiele Calderons, 1846, bearbeitete.

In neuester Zeit hat er sich dnrch zwei größere Werke mit einer gewissen
Gereiztheit an der literarischen Polemik der Zeit betheiligt. Es sind die beiden
Schriften: „Ueber die ethische und, religiöse Bedeutung der neuen romantischen
Poesie in Deutschland" und „Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in
seinem Verhältniß zum Christenthum". Er hat den vielfachen Angriffen gegen
die Romantik, die in jener Zeit theils von den rationalistischen Geschichtsschreibern,
theils von der jüngern Schule Hegel's ausgingen, mit einem gewissen Selbst¬
gefühl ein romantisches Glaubensbekenntnis; entgegengesetzt, er hat aber zugleich
die sogenannte romantische Schule und die ganze Kunstperiode, die mit ihr in
Verbindung steht, mit fast eben so großer Lebhaftigkeit angefochten, nicht vom,
Standpunkt des Nationalismus, sondern vom Standpunkt der „wahren" Roman- '
til aus. Sie sind in ihrer Tendenz von, einer unerhörte» Einseitigkeit, und was
die Ausführung betrifft, so findet man von einer gewissenhaften Kritik und selbst
von der gewöhnlichen wissenschaftlichen Gründlichkeit keine Spur; aber sie sind doch
nicht ohne Geist geschrieben, und es ist der Mühe werth, etwas näher darauf
einzugehen, um so mehr, da die von ihm gerügten Uebelstände der deutschen
Literatur nur zu sehr den wirklichen Verhältnissen entsprechen, wenn auch das
von ihm vorgeschlagene Heilmittel Nichts werth ist.

Eichendorff sucht für die Zerfahrenheit in der deutschen Literatur wie im
deutschen Lel-en als erste Quelle den Protestantismus. Sobald mau einmal an¬
gefangen habe, die alten sicheren Stützen des Glaubens umzustoßen und sie durch
das eigene Gefühl zu ersetzen, sei die nothwendige Folge gewesen, daß jedes
Individuum den Mittelpunkt der Welt in sich selber fand, und daß im Denken
wie im Empfinden sich eine chaotische Verwirrung über das glaubenlose Zeitalter
verbreitete. Auf diese Weise findet er nicht blos die Extravaganzen der neuesten
Literatur, sondern auch diejenigen Werke, die wir als die Blüthe unsrer nationalen
Kraft zu betrachten gewohnt sind, im innersten Kern faul und von einer bösen
Krankheit angefressen. Vor allen Dingen ist es Goethe, an dem er die Verderb-


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[0177] wohnliche Beamtencarrisre ein. 1821 wilde er Regierungsrath in Danzig, dann nach Königsberg, später nach Berlin versetzt, und hier 1841 zum Geheimen Regierungsrath im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten ernannt. Außer den bereits genannten poetischen Werken sind noch zu erwähnen: „Ahnung und Gegenwart", ein Roman, herausgegeben von Fouquö 1815, mit starkem Her¬ einspielen der Zeittendenzen, aber sür die Charakteristik seines poetischen Schaffens von weniger Bedeutung, als die kleineren Novellen. Seine Gedichte, die früher zerstreut erschienen waren, zum großen Theil als Episoden in seinen Novellen, wurden zuerst 1837 gesammelt. 1841 erschien eine Gesammtausgabe seiner Werke in vier Bänden. Auch als Uebersetzer hat er sich ausgezeichnet, indem er das spanische Volksbuch: „Der Graf Lucanor", 1840, und die geistlichen Schau¬ spiele Calderons, 1846, bearbeitete. In neuester Zeit hat er sich dnrch zwei größere Werke mit einer gewissen Gereiztheit an der literarischen Polemik der Zeit betheiligt. Es sind die beiden Schriften: „Ueber die ethische und, religiöse Bedeutung der neuen romantischen Poesie in Deutschland" und „Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältniß zum Christenthum". Er hat den vielfachen Angriffen gegen die Romantik, die in jener Zeit theils von den rationalistischen Geschichtsschreibern, theils von der jüngern Schule Hegel's ausgingen, mit einem gewissen Selbst¬ gefühl ein romantisches Glaubensbekenntnis; entgegengesetzt, er hat aber zugleich die sogenannte romantische Schule und die ganze Kunstperiode, die mit ihr in Verbindung steht, mit fast eben so großer Lebhaftigkeit angefochten, nicht vom, Standpunkt des Nationalismus, sondern vom Standpunkt der „wahren" Roman- ' til aus. Sie sind in ihrer Tendenz von, einer unerhörte» Einseitigkeit, und was die Ausführung betrifft, so findet man von einer gewissenhaften Kritik und selbst von der gewöhnlichen wissenschaftlichen Gründlichkeit keine Spur; aber sie sind doch nicht ohne Geist geschrieben, und es ist der Mühe werth, etwas näher darauf einzugehen, um so mehr, da die von ihm gerügten Uebelstände der deutschen Literatur nur zu sehr den wirklichen Verhältnissen entsprechen, wenn auch das von ihm vorgeschlagene Heilmittel Nichts werth ist. Eichendorff sucht für die Zerfahrenheit in der deutschen Literatur wie im deutschen Lel-en als erste Quelle den Protestantismus. Sobald mau einmal an¬ gefangen habe, die alten sicheren Stützen des Glaubens umzustoßen und sie durch das eigene Gefühl zu ersetzen, sei die nothwendige Folge gewesen, daß jedes Individuum den Mittelpunkt der Welt in sich selber fand, und daß im Denken wie im Empfinden sich eine chaotische Verwirrung über das glaubenlose Zeitalter verbreitete. Auf diese Weise findet er nicht blos die Extravaganzen der neuesten Literatur, sondern auch diejenigen Werke, die wir als die Blüthe unsrer nationalen Kraft zu betrachten gewohnt sind, im innersten Kern faul und von einer bösen Krankheit angefressen. Vor allen Dingen ist es Goethe, an dem er die Verderb-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/177>, abgerufen am 22.12.2024.