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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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der Beobachtung der kleinen unscheinbaren Züge des Herzens seine Frende hat,
oder ein idealer Dichter, wie Goethe, der auch in den Verirrungen der Menschen
das Allgemeine, Positive und Nothwendige herauserkennt, darf bei uns eine Dar¬
stellung des Zeitgeistes unternehmen. Wer selber mit seinem Gemüth der herr¬
schenden trüben. Stimmung, dem Unglauben und der Zerfahrenheit des Zeitalters
anheim gefallen ist, wird nie ein erfreuliches Gemälde zu Stande bringen. Freilich!
wie sollte es auch anders sein? Mit unsrem Verstand können wir uns allerdings die
gegenwärtigen Zustände so zurechtlegen, daß wir den innern Zusammenhang und damit
zugleich die Möglichkeit eines Fortschritts zum Bessern herausfinden, aber für unser Ge¬
fühl reichen diese Deductionen nicht aus. Die Politik hat für mehrere Jahre hindurch
die ganze Thätigkeit unsres Geistes in Anspruch genommen, und was sie uns un¬
mittelbar darstellt, sind nnr widerwärtige Bilder. Wir werden nicht blos äußer¬
lich durch beständige Täuschungen betroffen, wir sehen nicht blos an den hervor¬
ragenden Charakteren, die uns gegenüberstehen, jene Unsicherheit, jene Hingebung
an den Zufall und an die Verkettung der Umstände, die es uns unmöglich macht,
sie bei unsrer geistigen Reproduction aus dem Vollen herauszuarbeiten, und die
nur da nicht vorhanden ist, wo eine freiwillige oder, unfreiwillige Bornirtheit der
Gesichtspunkte eine armselige Einheit darstellt: sondern wir fühlen es in unsrem
eigenen Innern, daß .auch wir nicht mit kühner Freudigkeit unsrem Gefühl die
Zügel lassen können, daß auch unsre Seele von jenem unheiligen Gewebe der
Rücksichten und zufälligen Umstände eingeengt wird. Wir haben eine unbeschreib¬
liche Sehnsucht, zu lieben,, zu glauben, uns zu begeistern, aber wenn einmal ein
freudiger Augenblick eintritt, wo wir uns durch irgend eine Illusion wirklich zu
diesem Gefühl hinaufschrauben, so wirft sogleich der Zweifel seinen bleichen
Schatten darüber. Das soll nicht eine Klage sein. Wir begreifen sehr wohl,
daß ein Volk, welches sich zum-ersten Mal um sich selbst bekümmert, diesen Zustand
durchmachen muß, aber eben so wohl begreifen wir, daß eine solche Zeit am
wenigstens für freie Schöpfungen geeignet ist. Der Dichter, der große oder auch
nur schöne Gestalten, große oder anch nur rührende Schicksale. darstellen will,
muß die Brust frei und den Blick offen haben. Kummer, Sorge und Zweifel
sind nicht die geeignete Stimmung für ein künstlerisches Produciren, und wer in
diesen Tagen vollkommen frei ist von Kummer, Sorge und Zweifel, dessen Seele
muß so leer sein, daß von ihm die Kunst am wenigsten zu erwarten hat. --
In dem letzten Jcchrzehend suchte man sich aus dem Gewühl des Tages in die
enge, aber wenigstens in sich übereinstimmende Welt der Dorfgeschichten zurück¬
zuziehen, ein Weg, auf dem uns gegenwärtig die Franzosen nachgefolgt sind. Man
hat damit für den Augenblick große Erfolge ereicht, aber für den Unbefangenen
war es schon damals klar, daß diese Wirkung nicht lange aushalten konnte. Sie
war eine glückliche Reaction gegen die Phrasenhafligkeit des herrschenden Libera¬
lismus, aber ihr Inhalt war doch zu dürftig, um die gebildete Welt auf die Dauer


der Beobachtung der kleinen unscheinbaren Züge des Herzens seine Frende hat,
oder ein idealer Dichter, wie Goethe, der auch in den Verirrungen der Menschen
das Allgemeine, Positive und Nothwendige herauserkennt, darf bei uns eine Dar¬
stellung des Zeitgeistes unternehmen. Wer selber mit seinem Gemüth der herr¬
schenden trüben. Stimmung, dem Unglauben und der Zerfahrenheit des Zeitalters
anheim gefallen ist, wird nie ein erfreuliches Gemälde zu Stande bringen. Freilich!
wie sollte es auch anders sein? Mit unsrem Verstand können wir uns allerdings die
gegenwärtigen Zustände so zurechtlegen, daß wir den innern Zusammenhang und damit
zugleich die Möglichkeit eines Fortschritts zum Bessern herausfinden, aber für unser Ge¬
fühl reichen diese Deductionen nicht aus. Die Politik hat für mehrere Jahre hindurch
die ganze Thätigkeit unsres Geistes in Anspruch genommen, und was sie uns un¬
mittelbar darstellt, sind nnr widerwärtige Bilder. Wir werden nicht blos äußer¬
lich durch beständige Täuschungen betroffen, wir sehen nicht blos an den hervor¬
ragenden Charakteren, die uns gegenüberstehen, jene Unsicherheit, jene Hingebung
an den Zufall und an die Verkettung der Umstände, die es uns unmöglich macht,
sie bei unsrer geistigen Reproduction aus dem Vollen herauszuarbeiten, und die
nur da nicht vorhanden ist, wo eine freiwillige oder, unfreiwillige Bornirtheit der
Gesichtspunkte eine armselige Einheit darstellt: sondern wir fühlen es in unsrem
eigenen Innern, daß .auch wir nicht mit kühner Freudigkeit unsrem Gefühl die
Zügel lassen können, daß auch unsre Seele von jenem unheiligen Gewebe der
Rücksichten und zufälligen Umstände eingeengt wird. Wir haben eine unbeschreib¬
liche Sehnsucht, zu lieben,, zu glauben, uns zu begeistern, aber wenn einmal ein
freudiger Augenblick eintritt, wo wir uns durch irgend eine Illusion wirklich zu
diesem Gefühl hinaufschrauben, so wirft sogleich der Zweifel seinen bleichen
Schatten darüber. Das soll nicht eine Klage sein. Wir begreifen sehr wohl,
daß ein Volk, welches sich zum-ersten Mal um sich selbst bekümmert, diesen Zustand
durchmachen muß, aber eben so wohl begreifen wir, daß eine solche Zeit am
wenigstens für freie Schöpfungen geeignet ist. Der Dichter, der große oder auch
nur schöne Gestalten, große oder anch nur rührende Schicksale. darstellen will,
muß die Brust frei und den Blick offen haben. Kummer, Sorge und Zweifel
sind nicht die geeignete Stimmung für ein künstlerisches Produciren, und wer in
diesen Tagen vollkommen frei ist von Kummer, Sorge und Zweifel, dessen Seele
muß so leer sein, daß von ihm die Kunst am wenigsten zu erwarten hat. —
In dem letzten Jcchrzehend suchte man sich aus dem Gewühl des Tages in die
enge, aber wenigstens in sich übereinstimmende Welt der Dorfgeschichten zurück¬
zuziehen, ein Weg, auf dem uns gegenwärtig die Franzosen nachgefolgt sind. Man
hat damit für den Augenblick große Erfolge ereicht, aber für den Unbefangenen
war es schon damals klar, daß diese Wirkung nicht lange aushalten konnte. Sie
war eine glückliche Reaction gegen die Phrasenhafligkeit des herrschenden Libera¬
lismus, aber ihr Inhalt war doch zu dürftig, um die gebildete Welt auf die Dauer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/16>, abgerufen am 22.12.2024.