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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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gemeindskram" bitten die Kinder und Frauen, anch lassen sie die am Degen leicht
erkennbaren "Landleute" meistens ungebeten vorüberziehen, während der Fremde
mit desto dringenderen Bitten bestürmt wird. Krüppel und Cretinen sieht man
trotzdem im Ganzen selten; erstere jedenfalls seltner als nnter der altbayerischen
Beltlcrschaft, letztere seltener als in Vorarlberg und Throl. Der kleine Staat
und die kleinen Gemeinden haben hier die sonderbare Ansicht, deren möglichste
Verpflegung als eine Gewissenspflicht zu betrachten. Auch bettelnde Greise stehen
nur sehr einzeln am Wege. Denn der männliche Menschenschlag ist hier kraftvoll;
wenngleich meistens klein von Gestalt,, doch breitschulterig mit stählernen Muse'el-
ba" und bis ins höchste Alter arbeitstüchtig. Dagegen sieht man desto mehr
verkümmerte Weiber, abgewelkt, zerlumpt und armselig. Nur eins ist an ihnen,
wie an den zahlreichen Kinderhausen fast ausnahmlos schön: das Auge. Mau
kann in der That diesem herrlichsten Schmucke des Gesichts wol nur selten auf
einer kleinen Landbreite so oft in wunderbarer Vollkommenheit begegnen, wie hier;
und mit dem Berggürtel Jnncrrhodcn verschwindet anch plötzlich die Allgemeinheit
dieses Vorzugs. Bekanntlich behauptet man, in katholischen Ländern sei überhaupt
Schönheit des Auges häufiger, als in protestantischen, eine Gabe des Marien-
dienstcs. Vielleicht mag dies anch hier einwirken, obgleich die minder freundliche
Erläuterung der Nachbarn behauptet, das Appenzeller^ Frauenauge habe eine
vorwiegende Aehnlichkeit mit den Augen der Kühe und Ziegen, sei gleichsam ein
körperlicher Abglanz der gewohnten Beschäftigung mit diesen Thieren. Natürlich
fällt'uns die Entscheidung nicht anheim und eben sowenig wie wir uns angebor-
ner Höflichkeit gegen das zarte Geschlecht dieser "eckeudeu Behauptung beistimmen
mögen, eben so wenig darf doch die Mehrheit verläugnen, daß den Augen der
Jnnerrhodener Frauen jener Reiz der Seele, des Temperaments, der Race selten
innewohnt, welcher doch eigentlich ein wohlgcformtes Auge erst schön macht. Auch
steht das schone Auge der Jnnerrhoderinnen meistens vereinsamt in einem plum¬
pen oder schlaffen Antlitz, welches selbst bei den Wohlhabenderen und Gebildeteren
meistens nur in der Jugend durch pralle Frische erfreut, oder durch Blässe und
Schmalheit als wehmüthiger Kontrast zu der derben Art des ganzen Lebens aus-
fällt -- gewöhnlich eine Folge des über den Stickrahmen gebückten Lebens.
Trotzdem sind die Jnnerrhoderinnen ihres Mutterwitzes halber berühmt in der
ganzen Ostschweiz, und, der neckende Vorwitz -des Fremden, namentlich eines
"Dütschen", bleibt gewiß niemals ohne treffende Abfertigung. ^

Doch bereits ist keine Zeit mehr, ans den einzelnen begegnenden Menschen
prüfend zu blicken. Immer dichter stürzten sich die Züge der Wanderer, von
allen Seiten ziehen sie heran nach dem einen Sammelpunkt im sanft geweiteten
Thal. Nahe vor uns, rückwärts angelehnt an grünen Höhen, hinter denen er¬
habenere Tannenwälder aufsteigen, und über welche wieder der eisige Säntis
herabblickt, hat sich Appenzell gelagert, reinlich, wohlhabend von Ansehen, heiter


gemeindskram" bitten die Kinder und Frauen, anch lassen sie die am Degen leicht
erkennbaren „Landleute" meistens ungebeten vorüberziehen, während der Fremde
mit desto dringenderen Bitten bestürmt wird. Krüppel und Cretinen sieht man
trotzdem im Ganzen selten; erstere jedenfalls seltner als nnter der altbayerischen
Beltlcrschaft, letztere seltener als in Vorarlberg und Throl. Der kleine Staat
und die kleinen Gemeinden haben hier die sonderbare Ansicht, deren möglichste
Verpflegung als eine Gewissenspflicht zu betrachten. Auch bettelnde Greise stehen
nur sehr einzeln am Wege. Denn der männliche Menschenschlag ist hier kraftvoll;
wenngleich meistens klein von Gestalt,, doch breitschulterig mit stählernen Muse'el-
ba» und bis ins höchste Alter arbeitstüchtig. Dagegen sieht man desto mehr
verkümmerte Weiber, abgewelkt, zerlumpt und armselig. Nur eins ist an ihnen,
wie an den zahlreichen Kinderhausen fast ausnahmlos schön: das Auge. Mau
kann in der That diesem herrlichsten Schmucke des Gesichts wol nur selten auf
einer kleinen Landbreite so oft in wunderbarer Vollkommenheit begegnen, wie hier;
und mit dem Berggürtel Jnncrrhodcn verschwindet anch plötzlich die Allgemeinheit
dieses Vorzugs. Bekanntlich behauptet man, in katholischen Ländern sei überhaupt
Schönheit des Auges häufiger, als in protestantischen, eine Gabe des Marien-
dienstcs. Vielleicht mag dies anch hier einwirken, obgleich die minder freundliche
Erläuterung der Nachbarn behauptet, das Appenzeller^ Frauenauge habe eine
vorwiegende Aehnlichkeit mit den Augen der Kühe und Ziegen, sei gleichsam ein
körperlicher Abglanz der gewohnten Beschäftigung mit diesen Thieren. Natürlich
fällt'uns die Entscheidung nicht anheim und eben sowenig wie wir uns angebor-
ner Höflichkeit gegen das zarte Geschlecht dieser »eckeudeu Behauptung beistimmen
mögen, eben so wenig darf doch die Mehrheit verläugnen, daß den Augen der
Jnnerrhodener Frauen jener Reiz der Seele, des Temperaments, der Race selten
innewohnt, welcher doch eigentlich ein wohlgcformtes Auge erst schön macht. Auch
steht das schone Auge der Jnnerrhoderinnen meistens vereinsamt in einem plum¬
pen oder schlaffen Antlitz, welches selbst bei den Wohlhabenderen und Gebildeteren
meistens nur in der Jugend durch pralle Frische erfreut, oder durch Blässe und
Schmalheit als wehmüthiger Kontrast zu der derben Art des ganzen Lebens aus-
fällt — gewöhnlich eine Folge des über den Stickrahmen gebückten Lebens.
Trotzdem sind die Jnnerrhoderinnen ihres Mutterwitzes halber berühmt in der
ganzen Ostschweiz, und, der neckende Vorwitz -des Fremden, namentlich eines
„Dütschen", bleibt gewiß niemals ohne treffende Abfertigung. ^

Doch bereits ist keine Zeit mehr, ans den einzelnen begegnenden Menschen
prüfend zu blicken. Immer dichter stürzten sich die Züge der Wanderer, von
allen Seiten ziehen sie heran nach dem einen Sammelpunkt im sanft geweiteten
Thal. Nahe vor uns, rückwärts angelehnt an grünen Höhen, hinter denen er¬
habenere Tannenwälder aufsteigen, und über welche wieder der eisige Säntis
herabblickt, hat sich Appenzell gelagert, reinlich, wohlhabend von Ansehen, heiter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/100>, abgerufen am 22.12.2024.