Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zusammmenhang der Sage oft unangetastet ließ. Mit der Uebersetzung der Per¬
sonen ging die Uebersetzung alles dessen, was mit ihnen zusammenhängt, Hand
in Hand, und sie erfolgte zuweilen mit so wunderbarer Genauigkeit, daß sie selten
nur einen Zug. übergeht. Darum kann in den Märchen auch Alles wichtig sein
bis zur kleinsten Einzelnheit, und die Forschung ist angewiesen, auch das an¬
scheinend Bedeutungsloseste nicht unbeachtet zu lassen. Wie die unscheinbare
Schlüsselblume, das am Wege blühende und von dem gewöhnlichen Wanderer
zertretene Vergißmeinnicht ne,der Sage dem Schäfer, welcher sie auf seinen Hut
steckt, den Berg erschließen, aus dem ihm goldene Schätze entgegenleuchteu und
die der Erlösung harrende verwünschte Jungfrau entgegentritt, so öffnet uns oft
ein einfaches Wort, ein kleiner, scheinbar werthloser Zug den Blick in einen
reichen Mythus voll altem Götterleben, und giebt uns die Kraft, den lange ent¬
rückten Gott zu erlöse", der ohne das vielleicht noch lange dessen geharrt, viel¬
leicht den Erlöser nie gesehen hätte.

Die Werthlosigkeit aller nicht mit strenger Gewissenhaftigkeit bearbeiteten
Märchen liegt somit nein Tage: wer sie nicht mit reinen Händen liest, der verdient
sich keinen Dank, weder von der Wissenschaft, noch auch von dem Volke. Denn
auch bei dem Volke findet die Breittreterei und seichte Verwässerung keinen An¬
klang ; es findet in ihr nicht seinen Geist wieder, sondern die meist untergeordnete
Subjectivität eines ihm ganz und gar fernstehenden, seinem Denken und Han¬
deln durchaus fremden Menschen. Darum hatten auch solche Bearbeitungen ge¬
wöhnlich nur ein ephemeres Dasein; man liest sie einmal und legt sie zur
Seite, während das Märchen in seiner ächten Gestalt immer wieder gelesen wird
und immer neue Freude gewährt.

Ein flüchtiger Blick auf die bisher unter uns erschienenen Sammlungen schließe
diese Betrachtungen. Die Sammlung vou Musäus verdient den Namen "Volks¬
märchen" nicht, da sie fast nnr Sagen und nur drei Märchen enthält. Eine
ganze Reihe später erschienener verdienen den Namen kaum, da sie meist schlechte
Bearbeitungen dem Volke entnommener Ueberlieferungen sind, oder eine der
andern entlehnen. Nur die "Fabeln, Märchen und Erzählungen für Kiuder von
Caroline Stahl" sind bis zum Jahre -1819 zu erwähnen, da sie das Ueberlieferte
einfach wiedergeben. Erst mit der Grimmschen Sammlung hebt die Zeit der
eigentlichen Märchenbücher an, und die Brüder konnten mit Recht von denselben
sagen: In diesem Sinne giebt es sonst keine Sammlungen von Märchen in
Deutschland. Nachdem sie dreizehn Jahre lang mit erstaunenswerthen Fleiße ge¬
sammelt hatten, erschien 18-12 der erste Band mit Märchen aus Hessen und den
Main- und Kinziggegenden der Grafschaft'Hanau. -I81j folgte der zweite, welcher
schon andere aus dem Fürstenthum Münster und Paderborn brachte. -18-19 er¬
lebte jener erste Theil bereits eine vollständige Umarbeitung, und wurde durch Ein¬
leitungen über das Wesen der Märchen und Kindersitten erweitert; für manches


Zusammmenhang der Sage oft unangetastet ließ. Mit der Uebersetzung der Per¬
sonen ging die Uebersetzung alles dessen, was mit ihnen zusammenhängt, Hand
in Hand, und sie erfolgte zuweilen mit so wunderbarer Genauigkeit, daß sie selten
nur einen Zug. übergeht. Darum kann in den Märchen auch Alles wichtig sein
bis zur kleinsten Einzelnheit, und die Forschung ist angewiesen, auch das an¬
scheinend Bedeutungsloseste nicht unbeachtet zu lassen. Wie die unscheinbare
Schlüsselblume, das am Wege blühende und von dem gewöhnlichen Wanderer
zertretene Vergißmeinnicht ne,der Sage dem Schäfer, welcher sie auf seinen Hut
steckt, den Berg erschließen, aus dem ihm goldene Schätze entgegenleuchteu und
die der Erlösung harrende verwünschte Jungfrau entgegentritt, so öffnet uns oft
ein einfaches Wort, ein kleiner, scheinbar werthloser Zug den Blick in einen
reichen Mythus voll altem Götterleben, und giebt uns die Kraft, den lange ent¬
rückten Gott zu erlöse», der ohne das vielleicht noch lange dessen geharrt, viel¬
leicht den Erlöser nie gesehen hätte.

Die Werthlosigkeit aller nicht mit strenger Gewissenhaftigkeit bearbeiteten
Märchen liegt somit nein Tage: wer sie nicht mit reinen Händen liest, der verdient
sich keinen Dank, weder von der Wissenschaft, noch auch von dem Volke. Denn
auch bei dem Volke findet die Breittreterei und seichte Verwässerung keinen An¬
klang ; es findet in ihr nicht seinen Geist wieder, sondern die meist untergeordnete
Subjectivität eines ihm ganz und gar fernstehenden, seinem Denken und Han¬
deln durchaus fremden Menschen. Darum hatten auch solche Bearbeitungen ge¬
wöhnlich nur ein ephemeres Dasein; man liest sie einmal und legt sie zur
Seite, während das Märchen in seiner ächten Gestalt immer wieder gelesen wird
und immer neue Freude gewährt.

Ein flüchtiger Blick auf die bisher unter uns erschienenen Sammlungen schließe
diese Betrachtungen. Die Sammlung vou Musäus verdient den Namen „Volks¬
märchen" nicht, da sie fast nnr Sagen und nur drei Märchen enthält. Eine
ganze Reihe später erschienener verdienen den Namen kaum, da sie meist schlechte
Bearbeitungen dem Volke entnommener Ueberlieferungen sind, oder eine der
andern entlehnen. Nur die „Fabeln, Märchen und Erzählungen für Kiuder von
Caroline Stahl" sind bis zum Jahre -1819 zu erwähnen, da sie das Ueberlieferte
einfach wiedergeben. Erst mit der Grimmschen Sammlung hebt die Zeit der
eigentlichen Märchenbücher an, und die Brüder konnten mit Recht von denselben
sagen: In diesem Sinne giebt es sonst keine Sammlungen von Märchen in
Deutschland. Nachdem sie dreizehn Jahre lang mit erstaunenswerthen Fleiße ge¬
sammelt hatten, erschien 18-12 der erste Band mit Märchen aus Hessen und den
Main- und Kinziggegenden der Grafschaft'Hanau. -I81j folgte der zweite, welcher
schon andere aus dem Fürstenthum Münster und Paderborn brachte. -18-19 er¬
lebte jener erste Theil bereits eine vollständige Umarbeitung, und wurde durch Ein¬
leitungen über das Wesen der Märchen und Kindersitten erweitert; für manches


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94000"/>
          <p xml:id="ID_246" prev="#ID_245"> Zusammmenhang der Sage oft unangetastet ließ. Mit der Uebersetzung der Per¬<lb/>
sonen ging die Uebersetzung alles dessen, was mit ihnen zusammenhängt, Hand<lb/>
in Hand, und sie erfolgte zuweilen mit so wunderbarer Genauigkeit, daß sie selten<lb/>
nur einen Zug. übergeht. Darum kann in den Märchen auch Alles wichtig sein<lb/>
bis zur kleinsten Einzelnheit, und die Forschung ist angewiesen, auch das an¬<lb/>
scheinend Bedeutungsloseste nicht unbeachtet zu lassen. Wie die unscheinbare<lb/>
Schlüsselblume, das am Wege blühende und von dem gewöhnlichen Wanderer<lb/>
zertretene Vergißmeinnicht ne,der Sage dem Schäfer, welcher sie auf seinen Hut<lb/>
steckt, den Berg erschließen, aus dem ihm goldene Schätze entgegenleuchteu und<lb/>
die der Erlösung harrende verwünschte Jungfrau entgegentritt, so öffnet uns oft<lb/>
ein einfaches Wort, ein kleiner, scheinbar werthloser Zug den Blick in einen<lb/>
reichen Mythus voll altem Götterleben, und giebt uns die Kraft, den lange ent¬<lb/>
rückten Gott zu erlöse», der ohne das vielleicht noch lange dessen geharrt, viel¬<lb/>
leicht den Erlöser nie gesehen hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_247"> Die Werthlosigkeit aller nicht mit strenger Gewissenhaftigkeit bearbeiteten<lb/>
Märchen liegt somit nein Tage: wer sie nicht mit reinen Händen liest, der verdient<lb/>
sich keinen Dank, weder von der Wissenschaft, noch auch von dem Volke. Denn<lb/>
auch bei dem Volke findet die Breittreterei und seichte Verwässerung keinen An¬<lb/>
klang ; es findet in ihr nicht seinen Geist wieder, sondern die meist untergeordnete<lb/>
Subjectivität eines ihm ganz und gar fernstehenden, seinem Denken und Han¬<lb/>
deln durchaus fremden Menschen. Darum hatten auch solche Bearbeitungen ge¬<lb/>
wöhnlich nur ein ephemeres Dasein; man liest sie einmal und legt sie zur<lb/>
Seite, während das Märchen in seiner ächten Gestalt immer wieder gelesen wird<lb/>
und immer neue Freude gewährt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_248" next="#ID_249"> Ein flüchtiger Blick auf die bisher unter uns erschienenen Sammlungen schließe<lb/>
diese Betrachtungen. Die Sammlung vou Musäus verdient den Namen &#x201E;Volks¬<lb/>
märchen" nicht, da sie fast nnr Sagen und nur drei Märchen enthält. Eine<lb/>
ganze Reihe später erschienener verdienen den Namen kaum, da sie meist schlechte<lb/>
Bearbeitungen dem Volke entnommener Ueberlieferungen sind, oder eine der<lb/>
andern entlehnen. Nur die &#x201E;Fabeln, Märchen und Erzählungen für Kiuder von<lb/>
Caroline Stahl" sind bis zum Jahre -1819 zu erwähnen, da sie das Ueberlieferte<lb/>
einfach wiedergeben. Erst mit der Grimmschen Sammlung hebt die Zeit der<lb/>
eigentlichen Märchenbücher an, und die Brüder konnten mit Recht von denselben<lb/>
sagen: In diesem Sinne giebt es sonst keine Sammlungen von Märchen in<lb/>
Deutschland. Nachdem sie dreizehn Jahre lang mit erstaunenswerthen Fleiße ge¬<lb/>
sammelt hatten, erschien 18-12 der erste Band mit Märchen aus Hessen und den<lb/>
Main- und Kinziggegenden der Grafschaft'Hanau. -I81j folgte der zweite, welcher<lb/>
schon andere aus dem Fürstenthum Münster und Paderborn brachte. -18-19 er¬<lb/>
lebte jener erste Theil bereits eine vollständige Umarbeitung, und wurde durch Ein¬<lb/>
leitungen über das Wesen der Märchen und Kindersitten erweitert; für manches</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0097] Zusammmenhang der Sage oft unangetastet ließ. Mit der Uebersetzung der Per¬ sonen ging die Uebersetzung alles dessen, was mit ihnen zusammenhängt, Hand in Hand, und sie erfolgte zuweilen mit so wunderbarer Genauigkeit, daß sie selten nur einen Zug. übergeht. Darum kann in den Märchen auch Alles wichtig sein bis zur kleinsten Einzelnheit, und die Forschung ist angewiesen, auch das an¬ scheinend Bedeutungsloseste nicht unbeachtet zu lassen. Wie die unscheinbare Schlüsselblume, das am Wege blühende und von dem gewöhnlichen Wanderer zertretene Vergißmeinnicht ne,der Sage dem Schäfer, welcher sie auf seinen Hut steckt, den Berg erschließen, aus dem ihm goldene Schätze entgegenleuchteu und die der Erlösung harrende verwünschte Jungfrau entgegentritt, so öffnet uns oft ein einfaches Wort, ein kleiner, scheinbar werthloser Zug den Blick in einen reichen Mythus voll altem Götterleben, und giebt uns die Kraft, den lange ent¬ rückten Gott zu erlöse», der ohne das vielleicht noch lange dessen geharrt, viel¬ leicht den Erlöser nie gesehen hätte. Die Werthlosigkeit aller nicht mit strenger Gewissenhaftigkeit bearbeiteten Märchen liegt somit nein Tage: wer sie nicht mit reinen Händen liest, der verdient sich keinen Dank, weder von der Wissenschaft, noch auch von dem Volke. Denn auch bei dem Volke findet die Breittreterei und seichte Verwässerung keinen An¬ klang ; es findet in ihr nicht seinen Geist wieder, sondern die meist untergeordnete Subjectivität eines ihm ganz und gar fernstehenden, seinem Denken und Han¬ deln durchaus fremden Menschen. Darum hatten auch solche Bearbeitungen ge¬ wöhnlich nur ein ephemeres Dasein; man liest sie einmal und legt sie zur Seite, während das Märchen in seiner ächten Gestalt immer wieder gelesen wird und immer neue Freude gewährt. Ein flüchtiger Blick auf die bisher unter uns erschienenen Sammlungen schließe diese Betrachtungen. Die Sammlung vou Musäus verdient den Namen „Volks¬ märchen" nicht, da sie fast nnr Sagen und nur drei Märchen enthält. Eine ganze Reihe später erschienener verdienen den Namen kaum, da sie meist schlechte Bearbeitungen dem Volke entnommener Ueberlieferungen sind, oder eine der andern entlehnen. Nur die „Fabeln, Märchen und Erzählungen für Kiuder von Caroline Stahl" sind bis zum Jahre -1819 zu erwähnen, da sie das Ueberlieferte einfach wiedergeben. Erst mit der Grimmschen Sammlung hebt die Zeit der eigentlichen Märchenbücher an, und die Brüder konnten mit Recht von denselben sagen: In diesem Sinne giebt es sonst keine Sammlungen von Märchen in Deutschland. Nachdem sie dreizehn Jahre lang mit erstaunenswerthen Fleiße ge¬ sammelt hatten, erschien 18-12 der erste Band mit Märchen aus Hessen und den Main- und Kinziggegenden der Grafschaft'Hanau. -I81j folgte der zweite, welcher schon andere aus dem Fürstenthum Münster und Paderborn brachte. -18-19 er¬ lebte jener erste Theil bereits eine vollständige Umarbeitung, und wurde durch Ein¬ leitungen über das Wesen der Märchen und Kindersitten erweitert; für manches

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/97
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/97>, abgerufen am 24.07.2024.