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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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ans denen die Bösen handeln, sind bei Menschen am häufigsten Neid und Habsucht,
es ist die böse Stiefmutter, die neidische Königin, die ungenügsame Fischersfrau,
welche das Glück stören; häufiger find Frauen, als Männer, das böse Princip.
Bei deu Thaten des Helden ist außer Tapferkeit ein gewisser gemäßigter Sinn,
der sich zu beherrschen weiß, nothwendiges Erforderniß zum Siege. Wer den
Rathschlägen seiner Beschützer ungehorsam ist, wer da spricht, wo er schweigen soll,
wer sich durch imponirende Eindrücke fortreißen läßt, der verfällt seinem Geschick.
Aber er verfällt nicht rettungslos, es ist ihm entweder selbst Gelegenheit gegeben,
sein Unrecht gut zu machen, oder er wird befreit durch die stärkere Kraft eines
Andern. So ungefähr erscheint die Sittlichkeit des Volkes im Märchen. Ueberall
ein tiefes und gesundes ethisches Gefühl, welches nur bet einzelnen Klassen von
Märchen zuweilen beschränkt wird durch die ungesunde Stellung eines einzelnen
Standes, in dem die Märchen entstanden. So ist z. B. bei den Soldatenmärchen in
, der Regel ein Deserteur der glückliche Held. Originell ist in den deutschen Märchen
ferner der Humoy welcher häufig durchbricht, nicht nur bei solchen, in denen der
ganze Ton scherzhaft ist, sondern anch in ernsten, z. B. im Märchen vom Fischer
und seinem Weibe, einem der schönsten.

Nicht so allgemein bekannt ist die culturhistorische Wichtigkeit der Volksmärchen,
und deshalb sei es gestattet, hierüber ausführlicher zu sprechen. Als vor vierzig
Jahren die Gebrüder Grimm ihre berühmte Sammlung, die Hausmärchen,
Herausgaben und damals in der Einleitung der Sammlung zu lesen war, man
müsse diesen Ueberlieferungen einen wissenschaftlichen Werth einräumen und zu¬
geben, daß in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten seien,
da schüttelte die gelehrte Welt noch ungläubig die Köpfe; und jetzt sind Mi
hundert Hände beschäftigt, diese verachteten Märchen ans Tageslicht zu ziehen,
und wir behandeln sie mit einer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die man seit
Jahrhunderten nur römischen Altären und Urnen zuzuwenden gewohnt war, denn
wir besitzen in vielen Märchen Ueberlieferungen ans der Zeit der ersten Kindheit
und Jugend unsres Volkes; sie sind die lebendig im Munde des Volkes erhal¬
tene und fortgebildete Götter- und Heldensage.

Wilhelm Grimm begann 1819 die Vorrede'zu der Sammlung mit folgen¬
den schönen Worten: "Wir finden es wohl, wenn von Sturm oder anderm
Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird,
daß noch bei niedrigen Hecken und Sträuchen, die am Wege stehen, ein kleiner
Platz sich gesichert hat und einzelne Halme aufrecht geblieben sind. Scheint dann
die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet sort: keine frühe
Sichel schneidet sie für die großen Vorrathskammern; aber im Spätsommer,
wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Aehre
an Aehre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet, als sonst ganze Garben,
werden sie heimgetragen, und winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der


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ans denen die Bösen handeln, sind bei Menschen am häufigsten Neid und Habsucht,
es ist die böse Stiefmutter, die neidische Königin, die ungenügsame Fischersfrau,
welche das Glück stören; häufiger find Frauen, als Männer, das böse Princip.
Bei deu Thaten des Helden ist außer Tapferkeit ein gewisser gemäßigter Sinn,
der sich zu beherrschen weiß, nothwendiges Erforderniß zum Siege. Wer den
Rathschlägen seiner Beschützer ungehorsam ist, wer da spricht, wo er schweigen soll,
wer sich durch imponirende Eindrücke fortreißen läßt, der verfällt seinem Geschick.
Aber er verfällt nicht rettungslos, es ist ihm entweder selbst Gelegenheit gegeben,
sein Unrecht gut zu machen, oder er wird befreit durch die stärkere Kraft eines
Andern. So ungefähr erscheint die Sittlichkeit des Volkes im Märchen. Ueberall
ein tiefes und gesundes ethisches Gefühl, welches nur bet einzelnen Klassen von
Märchen zuweilen beschränkt wird durch die ungesunde Stellung eines einzelnen
Standes, in dem die Märchen entstanden. So ist z. B. bei den Soldatenmärchen in
, der Regel ein Deserteur der glückliche Held. Originell ist in den deutschen Märchen
ferner der Humoy welcher häufig durchbricht, nicht nur bei solchen, in denen der
ganze Ton scherzhaft ist, sondern anch in ernsten, z. B. im Märchen vom Fischer
und seinem Weibe, einem der schönsten.

Nicht so allgemein bekannt ist die culturhistorische Wichtigkeit der Volksmärchen,
und deshalb sei es gestattet, hierüber ausführlicher zu sprechen. Als vor vierzig
Jahren die Gebrüder Grimm ihre berühmte Sammlung, die Hausmärchen,
Herausgaben und damals in der Einleitung der Sammlung zu lesen war, man
müsse diesen Ueberlieferungen einen wissenschaftlichen Werth einräumen und zu¬
geben, daß in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten seien,
da schüttelte die gelehrte Welt noch ungläubig die Köpfe; und jetzt sind Mi
hundert Hände beschäftigt, diese verachteten Märchen ans Tageslicht zu ziehen,
und wir behandeln sie mit einer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die man seit
Jahrhunderten nur römischen Altären und Urnen zuzuwenden gewohnt war, denn
wir besitzen in vielen Märchen Ueberlieferungen ans der Zeit der ersten Kindheit
und Jugend unsres Volkes; sie sind die lebendig im Munde des Volkes erhal¬
tene und fortgebildete Götter- und Heldensage.

Wilhelm Grimm begann 1819 die Vorrede'zu der Sammlung mit folgen¬
den schönen Worten: „Wir finden es wohl, wenn von Sturm oder anderm
Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird,
daß noch bei niedrigen Hecken und Sträuchen, die am Wege stehen, ein kleiner
Platz sich gesichert hat und einzelne Halme aufrecht geblieben sind. Scheint dann
die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet sort: keine frühe
Sichel schneidet sie für die großen Vorrathskammern; aber im Spätsommer,
wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Aehre
an Aehre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet, als sonst ganze Garben,
werden sie heimgetragen, und winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/93>, abgerufen am 24.07.2024.