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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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tcnhaften Zug anzuführen, aber dann läßt er ihn fallen, und der Charakter fällt
ganz mit seinem theoretischen Inhalt zusammen, wie bei Radowitz. Alle diese
Ritter sind nur Träger der Conversation, und eben darum wird der Dialog steif
und unnatürlich, weil er sich nicht in natürlichen individuellen Empfindungen, son¬
dern in allgemeinen Abstractionen fortbewegt. -- Unter diesen idealen Charakteren
sind anzuführen: die weichen theoretischen Idealisten Siegbert, Louis Armand
und Oleander, die praktisch tugendhaften Rodewald, Werdeck und Rudhard, und
die in Jean Paulischer .Manier angelegten Humoristen Leidenfrost und Dystra.
Einzelne Einfälle, die den Letzteren in den Mund gelegt werden (z. B. die Rede,
Leidenfrost's über die Gleichgiltigkeit unsrer Zeit gegen den Tod), sind trotz
ihrer Paradoxie gar nicht uninteressant und würden eine noch viel größere Wir¬
kung ausüben, wenn sie etwas mehr wären, als blos theoretische' Einfälle.

Aber auf alle diese Figuren kann man ein' sehr treffendes Wort anwenden,
welches Gutzkow mit eiuer Art instinctiven Scharfsinn ausspricht, ohne zu merken,
daß er sich selber damit trifft: "Was soll uns die wuchernde Ueberfülle des Gei¬
stes, die nur der Form, nicht dem Inhalt der Wahrheit dient! Seht diese
Geistreichen! Wie sie sich recken und dehnen, um wunderbare Figuren.zu Stande
zu bringen, und der gerade, schlanke Wuchs der Ueberzeugung fehlt! .Diese
Menschen sind unser Unglück. All ihr Geist befruchtet Nichts, schafft Nichts, ge¬
staltet Nichts ..... Ich lobe mir die Einfältigen, die'wissen, was sie wollen." --
Gutzkow hätte keine bessere Selbstkritik geben können. Und wenn er an einer
andern Stelle sagt: "Der Witz macht schwach, mir Pedanten haben Kraft," so
ist auch das wahr und auf ihn selber anzuwenden, wenn man der Formel anch
eine andere Wendung geben möchte.

Viel besser angelegt, als diese idealen Charaktere, sind die irrationeller Figuren,
von denen wenigstens eine Masse interessanter Einzelheiten gegeben werden, z. B.
Egon und Mclanie; die Letzte übrigens eine Wiederaufnahme früherer Charaktere,
Wally, Seraphine, Sidonie u. s. w. Aber die Ausführung entspricht der Anlage
nicht. Es genügt nicht, daß der Dichter uns eine Reihe spannender Anomalien
vorführt; er hat auch die Pflicht, sie auszulösen und zu erklären. Das hat Gutz¬
kow nicht einmal versucht. Er octroyirt uns die ungewöhnlichsten, unerklärlichsten
psychologischen Thatsachen, ohne sie zu begründen, ohne uns auch nur einen Leit¬
faden für den Zusammenhang zu geben. Egon zeichnet sich vor ähnlichen Cha¬
rakteren Gutzkow's dadurch aus, daß in seinem Leben wenigstens ein Wendepunkt
eintritt, der Augenblick nämlich, wo er von seiner illegitimen Geburt unterrichtet
wird. Dafür ist aber schon in seiner äußersten Erscheinung, in seinem Verhältniß
zu Dankmar, zu Louis Armand u. s. w. so viel Affectirtes, Verschrobenes und
Unwahres, und seine spätere Rückkehr zum alten Bunde hat so wenig Sinn, daß
auch dieser Charakter sich lo Effecthascherei verliert. -- Bei Melania kann man
ohne Uebertreibung sagen, daß man keine einzige ihrer Handlungen, keine einzige


tcnhaften Zug anzuführen, aber dann läßt er ihn fallen, und der Charakter fällt
ganz mit seinem theoretischen Inhalt zusammen, wie bei Radowitz. Alle diese
Ritter sind nur Träger der Conversation, und eben darum wird der Dialog steif
und unnatürlich, weil er sich nicht in natürlichen individuellen Empfindungen, son¬
dern in allgemeinen Abstractionen fortbewegt. — Unter diesen idealen Charakteren
sind anzuführen: die weichen theoretischen Idealisten Siegbert, Louis Armand
und Oleander, die praktisch tugendhaften Rodewald, Werdeck und Rudhard, und
die in Jean Paulischer .Manier angelegten Humoristen Leidenfrost und Dystra.
Einzelne Einfälle, die den Letzteren in den Mund gelegt werden (z. B. die Rede,
Leidenfrost's über die Gleichgiltigkeit unsrer Zeit gegen den Tod), sind trotz
ihrer Paradoxie gar nicht uninteressant und würden eine noch viel größere Wir¬
kung ausüben, wenn sie etwas mehr wären, als blos theoretische' Einfälle.

Aber auf alle diese Figuren kann man ein' sehr treffendes Wort anwenden,
welches Gutzkow mit eiuer Art instinctiven Scharfsinn ausspricht, ohne zu merken,
daß er sich selber damit trifft: „Was soll uns die wuchernde Ueberfülle des Gei¬
stes, die nur der Form, nicht dem Inhalt der Wahrheit dient! Seht diese
Geistreichen! Wie sie sich recken und dehnen, um wunderbare Figuren.zu Stande
zu bringen, und der gerade, schlanke Wuchs der Ueberzeugung fehlt! .Diese
Menschen sind unser Unglück. All ihr Geist befruchtet Nichts, schafft Nichts, ge¬
staltet Nichts ..... Ich lobe mir die Einfältigen, die'wissen, was sie wollen." —
Gutzkow hätte keine bessere Selbstkritik geben können. Und wenn er an einer
andern Stelle sagt: „Der Witz macht schwach, mir Pedanten haben Kraft," so
ist auch das wahr und auf ihn selber anzuwenden, wenn man der Formel anch
eine andere Wendung geben möchte.

Viel besser angelegt, als diese idealen Charaktere, sind die irrationeller Figuren,
von denen wenigstens eine Masse interessanter Einzelheiten gegeben werden, z. B.
Egon und Mclanie; die Letzte übrigens eine Wiederaufnahme früherer Charaktere,
Wally, Seraphine, Sidonie u. s. w. Aber die Ausführung entspricht der Anlage
nicht. Es genügt nicht, daß der Dichter uns eine Reihe spannender Anomalien
vorführt; er hat auch die Pflicht, sie auszulösen und zu erklären. Das hat Gutz¬
kow nicht einmal versucht. Er octroyirt uns die ungewöhnlichsten, unerklärlichsten
psychologischen Thatsachen, ohne sie zu begründen, ohne uns auch nur einen Leit¬
faden für den Zusammenhang zu geben. Egon zeichnet sich vor ähnlichen Cha¬
rakteren Gutzkow's dadurch aus, daß in seinem Leben wenigstens ein Wendepunkt
eintritt, der Augenblick nämlich, wo er von seiner illegitimen Geburt unterrichtet
wird. Dafür ist aber schon in seiner äußersten Erscheinung, in seinem Verhältniß
zu Dankmar, zu Louis Armand u. s. w. so viel Affectirtes, Verschrobenes und
Unwahres, und seine spätere Rückkehr zum alten Bunde hat so wenig Sinn, daß
auch dieser Charakter sich lo Effecthascherei verliert. — Bei Melania kann man
ohne Uebertreibung sagen, daß man keine einzige ihrer Handlungen, keine einzige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/68>, abgerufen am 24.07.2024.