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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Verhältnissen gelebt, oder sind daraus hervorgegangen. Es ist in den genealogischen
Verhältnissen eine Verwirrung, die man nur mit der Verwirrung-in Hoffmann's
Tcufelselixireu vergleichen kann. So ist z. B. Prinz Egon nicht der wirkliche
Sohn des alten Feldmarschalls, sondern eines gewissen Rodewald. Dieser hat zugleich
mit Egon's Mutter und mit Paulinen im Verhältniß gestanden. Egon's Mutter
war schon geneigt, ihrem Gemahl das Verhältniß zu entdecken, sich von ihm
scheiden zu lassen und Rodewald zu heirathen -- der Gedanke, was der alte
Feldmarschall dazu für Augen gemacht haben würde, stößt ihr gar nicht aus --;
da macht ihr Mann eine große Erbschaft und wird in den Fürstenstand erhoben.
Sofort giebt sie ihr Vorhaben auf. Und der Dichter findet das ganz natürlich!

Man fleht schon aus dieser einzelnen Probe, daß hier eine Reihe dunkler
Mysterien stattfinden, die Eugen Sue Nichts nachgeben; aber der Dichter ist in
seiner Erzählung zu unruhig und zu unstät, um auch nur jene materielle Span-'
mung hervorzubringen, die den französischen Mysteriendichtern so leicht wird. Seine
verschiedenen Intriguen haben keine innerliche Einheit, sie sind nur äußerlich in
einander verwebt und wirken ermüdend und einschläfernd, obgleich alle bekannten
Mittel des Gespenstischen und Unheimlichen aufgeboten werden. -- Wir lassen
damit den historischen Stoff bei Seite und gehen auf die Charaktere über.

Die Charakterzeichnung ist von jeher Gutzkow's schwächste Seite ge¬
wesen. Den vollständigen Mangel an allem Idealismus hat er mit den neueren
Franzosen und Engländern, z. B. mit Balzac und Thackeray, gemein, aber es
geht ihm auch jene Sauberkeit und Sicherheit der Zeichnung ab, die den düsteren
Bildern dieser Dichter wenigstens einiges Interesse verleiht. Schon seit seiner
frühesten Zeit hat er theoretisch und praktisch die Ansicht ausgeführt, daß nur
gemischte Charaktere, d. h. Charaktere, in denen sich das Gute und Böse gleich¬
mäßig begegnet, in die Poesie wie in das Leben gehören. Diese Ansicht, die in
einer Zeit ihren Werth hatte, wo man gegen das einseitige Tugendprincip der
abstracten Moralisten die Fülle des concreten Lebens geltend machte, hat nur in
dem Fall ihre Berechtigung, wo sich den harten Anforderungen des Gesetzes ge¬
genüber eine kräftige und in sich übereinstimmende Natur regt, die, wenn auch
nicht in ihrem Verhältniß zum Allgemeinen zu billigen, doch an sich betrachtet als
lebendige Totalität von Interesse ist. So versteht es aber Gutzkow keineswegs.
Seine "gemischten Charaktere" gehen nicht aus der Einheit einer kräftigen Na¬
tur hervor, sondern sind Aggregate aus den verschiedenartigsten, widerstrebendsten
Bestandtheilen.. Er fühlt die Gewalt der accidentellen Umstände als eine zwin¬
gende, weil sein eigenes Gefühl nicht stark und sicher genug ist, um ihn darüber
hinauszuheben. Seine Charaktere sind zwar in der Regel im höchsten Grade
von sich selber eingenommen, aber sie haben nicht jenes Selbstvertrauen, das sie frei
macht und unabhängig von gemeinen Rücksichten. Niemals ist Gutzkow im Stande
gewesen, ein edles, starkes, kräftiges Herz zu schildern, das nicht blos im Augen-


Verhältnissen gelebt, oder sind daraus hervorgegangen. Es ist in den genealogischen
Verhältnissen eine Verwirrung, die man nur mit der Verwirrung-in Hoffmann's
Tcufelselixireu vergleichen kann. So ist z. B. Prinz Egon nicht der wirkliche
Sohn des alten Feldmarschalls, sondern eines gewissen Rodewald. Dieser hat zugleich
mit Egon's Mutter und mit Paulinen im Verhältniß gestanden. Egon's Mutter
war schon geneigt, ihrem Gemahl das Verhältniß zu entdecken, sich von ihm
scheiden zu lassen und Rodewald zu heirathen — der Gedanke, was der alte
Feldmarschall dazu für Augen gemacht haben würde, stößt ihr gar nicht aus —;
da macht ihr Mann eine große Erbschaft und wird in den Fürstenstand erhoben.
Sofort giebt sie ihr Vorhaben auf. Und der Dichter findet das ganz natürlich!

Man fleht schon aus dieser einzelnen Probe, daß hier eine Reihe dunkler
Mysterien stattfinden, die Eugen Sue Nichts nachgeben; aber der Dichter ist in
seiner Erzählung zu unruhig und zu unstät, um auch nur jene materielle Span-'
mung hervorzubringen, die den französischen Mysteriendichtern so leicht wird. Seine
verschiedenen Intriguen haben keine innerliche Einheit, sie sind nur äußerlich in
einander verwebt und wirken ermüdend und einschläfernd, obgleich alle bekannten
Mittel des Gespenstischen und Unheimlichen aufgeboten werden. — Wir lassen
damit den historischen Stoff bei Seite und gehen auf die Charaktere über.

Die Charakterzeichnung ist von jeher Gutzkow's schwächste Seite ge¬
wesen. Den vollständigen Mangel an allem Idealismus hat er mit den neueren
Franzosen und Engländern, z. B. mit Balzac und Thackeray, gemein, aber es
geht ihm auch jene Sauberkeit und Sicherheit der Zeichnung ab, die den düsteren
Bildern dieser Dichter wenigstens einiges Interesse verleiht. Schon seit seiner
frühesten Zeit hat er theoretisch und praktisch die Ansicht ausgeführt, daß nur
gemischte Charaktere, d. h. Charaktere, in denen sich das Gute und Böse gleich¬
mäßig begegnet, in die Poesie wie in das Leben gehören. Diese Ansicht, die in
einer Zeit ihren Werth hatte, wo man gegen das einseitige Tugendprincip der
abstracten Moralisten die Fülle des concreten Lebens geltend machte, hat nur in
dem Fall ihre Berechtigung, wo sich den harten Anforderungen des Gesetzes ge¬
genüber eine kräftige und in sich übereinstimmende Natur regt, die, wenn auch
nicht in ihrem Verhältniß zum Allgemeinen zu billigen, doch an sich betrachtet als
lebendige Totalität von Interesse ist. So versteht es aber Gutzkow keineswegs.
Seine „gemischten Charaktere" gehen nicht aus der Einheit einer kräftigen Na¬
tur hervor, sondern sind Aggregate aus den verschiedenartigsten, widerstrebendsten
Bestandtheilen.. Er fühlt die Gewalt der accidentellen Umstände als eine zwin¬
gende, weil sein eigenes Gefühl nicht stark und sicher genug ist, um ihn darüber
hinauszuheben. Seine Charaktere sind zwar in der Regel im höchsten Grade
von sich selber eingenommen, aber sie haben nicht jenes Selbstvertrauen, das sie frei
macht und unabhängig von gemeinen Rücksichten. Niemals ist Gutzkow im Stande
gewesen, ein edles, starkes, kräftiges Herz zu schildern, das nicht blos im Augen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/64>, abgerufen am 24.07.2024.