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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Nicht selten legt sich der Junge selber diese Cur ans, "ut es kümmert ihn wenig,
wenn ein älterer Bruder, der vor ihm denselben Beruf ergriffen hatte, "über
Bord gegangen ist," wie das oft vorkommt. So schrieb ein Schüler des Olden¬
burger Gymnasiums von elf oder zwölf Jahren, der seineu Lehrer gekränkt hatte,
folgenden lakonischer Brief an ihn: "Lieber Herr Kollaborator! (denn dieser
entsetzliche Titel ist dort noch gäng und gäbe) Ich frage Sie, ob Sie mir ver¬
zeihen können. Können Sie es nicht, so habe ich beschlossen zur See zu gehen."

Bei weitem die meisten jungen Burschen, die sich im Herzogthum ihrer
Militairverpflichtung entziehen, thun dies, um zur See zu gehn. Würden sie
für die Marine ausgehoben werden -- ein Beruf, der ihrem Naturell unendlich
mehr zusagt -- so würden sie weit treuer zur Fahne halten. Hier in diesem
nordwestlichen Theile Deutschlands, wo schon der bloße Anblick vieler selbst von
der Küste entfernten, mit Flaggenstöcken gezierten Gärten die Liebe zur See ver¬
kündet, liegt der trefflichste Stoff für die Mannschaft einer deutschen Flotte; aber
das ist eben das unselige Geschick Deutschlands, daß seine Kraft ungenutzt im
Winkel liegt!

Wer nicht an der Küste gelebt hat, weiß nicht, wie außerordentlich groß die
Zahl der Opfer ist, welche die See fordert. Auf dem Kirchhofe der oldenburger
Insel Wangerooge, die von einem frischen, wohlgebildeten Schiffcrvölkchen be¬
wohnt wird, ist das Verhältniß der Namen von Kindern, Mädchen und Frauen
gegen das der Männer wahrhaft erschreckend. Man erzählte mir dort, die Schif¬
fer trügen silberne Knöpfe an den Hemden, damit, wenn ihre Leiche irgendwo
ans Ufer geworfen würde, mit dem Erlöse die Kosten der Beerdigung bestritten
werden könnten. Auffallend scheint es, daß die wenigsten oldenbnrger Matrosen
schwimmen können. "Wir würden", sagen sie, "wenn wir es gelernt hätten, uns
umsonst nur lange quälen, da das Schiff im Laufe doch uicht anhalten kann."

Die kleinen oldenbnrger Schiffer, wie sie in Wangerooge häufig sind, fahren
meist nur mit drei Mann, wenn ich so sagen darf; denn der Dritte, der die
Küche besorgt, ist in der Regel nur ein Junge. Weiber werden ans dem Schiffe
nicht geduldet, und es geschieht mir ausnahmsweise, daß der jungverheirathete
Schiffer seiue Frau auf der ersten Fahrt nach der Hochzeit mitnimmt. Uebrigens
gehen diese Zweimaster in der Regel nur uach nahegelegenen Hafenstädten und
wagen sich uicht über die Oceane.

Bon den sieben Städtchen des Herzogsthnms ist nur Oldenburg wegen
seiner Eigenschaft als Residenz-, Beamten- und Militairstadt über den Charakter
des Landkinder hinausgehoben. Zwar ist der bei weitem überwiegende Theil der
Stadt, und namentlich der eigentliche Kern derselben, innerhalb der abgetragenen
Wälle, mit Ausnahme der neuangelegter Theaterstraße, in Bezug ans Einfachheit
der Häuser, Enge der Straßen, Jämmerlichkeit des ewig erneuten, und doch nie
verbesserten Pflasters, ländlich genug, und selbst die schönsten Quartiere tragen


Nicht selten legt sich der Junge selber diese Cur ans, »ut es kümmert ihn wenig,
wenn ein älterer Bruder, der vor ihm denselben Beruf ergriffen hatte, „über
Bord gegangen ist," wie das oft vorkommt. So schrieb ein Schüler des Olden¬
burger Gymnasiums von elf oder zwölf Jahren, der seineu Lehrer gekränkt hatte,
folgenden lakonischer Brief an ihn: „Lieber Herr Kollaborator! (denn dieser
entsetzliche Titel ist dort noch gäng und gäbe) Ich frage Sie, ob Sie mir ver¬
zeihen können. Können Sie es nicht, so habe ich beschlossen zur See zu gehen."

Bei weitem die meisten jungen Burschen, die sich im Herzogthum ihrer
Militairverpflichtung entziehen, thun dies, um zur See zu gehn. Würden sie
für die Marine ausgehoben werden — ein Beruf, der ihrem Naturell unendlich
mehr zusagt — so würden sie weit treuer zur Fahne halten. Hier in diesem
nordwestlichen Theile Deutschlands, wo schon der bloße Anblick vieler selbst von
der Küste entfernten, mit Flaggenstöcken gezierten Gärten die Liebe zur See ver¬
kündet, liegt der trefflichste Stoff für die Mannschaft einer deutschen Flotte; aber
das ist eben das unselige Geschick Deutschlands, daß seine Kraft ungenutzt im
Winkel liegt!

Wer nicht an der Küste gelebt hat, weiß nicht, wie außerordentlich groß die
Zahl der Opfer ist, welche die See fordert. Auf dem Kirchhofe der oldenburger
Insel Wangerooge, die von einem frischen, wohlgebildeten Schiffcrvölkchen be¬
wohnt wird, ist das Verhältniß der Namen von Kindern, Mädchen und Frauen
gegen das der Männer wahrhaft erschreckend. Man erzählte mir dort, die Schif¬
fer trügen silberne Knöpfe an den Hemden, damit, wenn ihre Leiche irgendwo
ans Ufer geworfen würde, mit dem Erlöse die Kosten der Beerdigung bestritten
werden könnten. Auffallend scheint es, daß die wenigsten oldenbnrger Matrosen
schwimmen können. „Wir würden", sagen sie, „wenn wir es gelernt hätten, uns
umsonst nur lange quälen, da das Schiff im Laufe doch uicht anhalten kann."

Die kleinen oldenbnrger Schiffer, wie sie in Wangerooge häufig sind, fahren
meist nur mit drei Mann, wenn ich so sagen darf; denn der Dritte, der die
Küche besorgt, ist in der Regel nur ein Junge. Weiber werden ans dem Schiffe
nicht geduldet, und es geschieht mir ausnahmsweise, daß der jungverheirathete
Schiffer seiue Frau auf der ersten Fahrt nach der Hochzeit mitnimmt. Uebrigens
gehen diese Zweimaster in der Regel nur uach nahegelegenen Hafenstädten und
wagen sich uicht über die Oceane.

Bon den sieben Städtchen des Herzogsthnms ist nur Oldenburg wegen
seiner Eigenschaft als Residenz-, Beamten- und Militairstadt über den Charakter
des Landkinder hinausgehoben. Zwar ist der bei weitem überwiegende Theil der
Stadt, und namentlich der eigentliche Kern derselben, innerhalb der abgetragenen
Wälle, mit Ausnahme der neuangelegter Theaterstraße, in Bezug ans Einfachheit
der Häuser, Enge der Straßen, Jämmerlichkeit des ewig erneuten, und doch nie
verbesserten Pflasters, ländlich genug, und selbst die schönsten Quartiere tragen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/508>, abgerufen am 24.07.2024.