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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Schiller's Werken auch wol einen verschlissenen Griechen, oder Römer. Andererseits
findet sich aber bei den Marschbauern auch viel sittliche Rohheit. Die Viehzucht,
welche eine Hauptbeschäftigung dieser Leute bildet, bringt ihnen bei wenig Mühe
viel ein. Zudem führt der reiche Hausmann bei seiner Landwirthschaft blos die
Aufsicht, während auf der Geest Herr und Knecht gemeinschaftlich Hand anlegen.
Da wird denn die Zeit mit Trinken und Spiel vergeudet. Es kommt nicht sel¬
ten vor,^ daß eine Gesellschaft Bauern, die Winters nach der Kirche fährt -- alle
natürlich in eigenen Stnhlwagen und mit eigenen Rossen, die mancher Stadtequi¬
page zur Zierde gereichen würden -- nach dem Gottesdienste im Wirthshause bei
Bordeaux und Karten festklebt, und den Nachmittag, die Nacht, den folgenden
Tag, ja mehrere Tage, und selbst die Woche lang hinter dem Schenktisch sitzt,
so daß der Einzelne seine hundert Thaler in die Schanze schlägt. Das Vergnü¬
gen bei solchen wüsten Gelagen ist nicht groß; aber man kehrt mit dem stolzen
Bewußtsein zurück, dnrch die That bewiesen zu haben, daß man viel verprassen
kann, ohne sich weh zu thun.

Und wie es die Herren im Großen treiben, so die Knechte im Kleinen.
Während es auf der Geest Sitte ist, daß die Heirathen erst dann geschlossen
werden, wenn beide Theile sich so viel erworben haben, daß sie wenigstens Bett
und Kuh mitbringen, mag auch die Braut el" wenig in die Jahre kommen, so
vergeuden die Dienstboten in der Marsch nicht selten ihren hohen Lohn völlig,
und treten dann, im Vertrauen ans diese ihre Einnahme, völlig kahl in die Ehe.
Daher auch den Reimspruch, der in der Marsch gäng und gäbe ist:


De Jungfer is Brut;
Ar Füür geit ut.
Ar Elend geit an.

(Die Jungfer ist Braut; ihr Feuer.geht aus, ihr Elend geht an.) Natürlich;
denn die jungeu Leute beginnen mit Schulden, aus denen sie sich oft nicht wieder
hergnszuwickeln vermögen.

Unter den oldenbnrger Marschbewohnem zeichnet sich der Jeverländer beson¬
ders dnrch Intelligenz und Originalität ans. Bei ihm machten sich zuerst in
der friedlichen Zeit vor i>8 politische Bedürfnisse geltend; es war dort der Sitz
der Opposition. Unter den berühmten Männern, welche diesen grünen Streifen
Landes Heimath nennen, hebe ich beispielsweise nur den Historiker Schlosser her¬
vor, dessen kernige Friesennatnr sich in der bittern Verfolgung aller Fürstentyrannci
bekundet; mit scharfer Feder setzt er de" Kampf fort, den die Stedinger vor mehr
als sechshundert Jahren mit Schwert und Hellebarde führten.

Im Allgemeinen gilt von dem Oldenburger, was in schwächerem Grade von
dem Deutschen überhaupt gesagt werden kann, nämlich daß seine häuslichen Tu¬
genden den geselligen und politischen voranstchn; daß er daheim und innerhalb
seiner Familie im vortheilhaftern Licht erscheint. Das patriarchalische Regiment,


Schiller's Werken auch wol einen verschlissenen Griechen, oder Römer. Andererseits
findet sich aber bei den Marschbauern auch viel sittliche Rohheit. Die Viehzucht,
welche eine Hauptbeschäftigung dieser Leute bildet, bringt ihnen bei wenig Mühe
viel ein. Zudem führt der reiche Hausmann bei seiner Landwirthschaft blos die
Aufsicht, während auf der Geest Herr und Knecht gemeinschaftlich Hand anlegen.
Da wird denn die Zeit mit Trinken und Spiel vergeudet. Es kommt nicht sel¬
ten vor,^ daß eine Gesellschaft Bauern, die Winters nach der Kirche fährt — alle
natürlich in eigenen Stnhlwagen und mit eigenen Rossen, die mancher Stadtequi¬
page zur Zierde gereichen würden — nach dem Gottesdienste im Wirthshause bei
Bordeaux und Karten festklebt, und den Nachmittag, die Nacht, den folgenden
Tag, ja mehrere Tage, und selbst die Woche lang hinter dem Schenktisch sitzt,
so daß der Einzelne seine hundert Thaler in die Schanze schlägt. Das Vergnü¬
gen bei solchen wüsten Gelagen ist nicht groß; aber man kehrt mit dem stolzen
Bewußtsein zurück, dnrch die That bewiesen zu haben, daß man viel verprassen
kann, ohne sich weh zu thun.

Und wie es die Herren im Großen treiben, so die Knechte im Kleinen.
Während es auf der Geest Sitte ist, daß die Heirathen erst dann geschlossen
werden, wenn beide Theile sich so viel erworben haben, daß sie wenigstens Bett
und Kuh mitbringen, mag auch die Braut el» wenig in die Jahre kommen, so
vergeuden die Dienstboten in der Marsch nicht selten ihren hohen Lohn völlig,
und treten dann, im Vertrauen ans diese ihre Einnahme, völlig kahl in die Ehe.
Daher auch den Reimspruch, der in der Marsch gäng und gäbe ist:


De Jungfer is Brut;
Ar Füür geit ut.
Ar Elend geit an.

(Die Jungfer ist Braut; ihr Feuer.geht aus, ihr Elend geht an.) Natürlich;
denn die jungeu Leute beginnen mit Schulden, aus denen sie sich oft nicht wieder
hergnszuwickeln vermögen.

Unter den oldenbnrger Marschbewohnem zeichnet sich der Jeverländer beson¬
ders dnrch Intelligenz und Originalität ans. Bei ihm machten sich zuerst in
der friedlichen Zeit vor i>8 politische Bedürfnisse geltend; es war dort der Sitz
der Opposition. Unter den berühmten Männern, welche diesen grünen Streifen
Landes Heimath nennen, hebe ich beispielsweise nur den Historiker Schlosser her¬
vor, dessen kernige Friesennatnr sich in der bittern Verfolgung aller Fürstentyrannci
bekundet; mit scharfer Feder setzt er de» Kampf fort, den die Stedinger vor mehr
als sechshundert Jahren mit Schwert und Hellebarde führten.

Im Allgemeinen gilt von dem Oldenburger, was in schwächerem Grade von
dem Deutschen überhaupt gesagt werden kann, nämlich daß seine häuslichen Tu¬
genden den geselligen und politischen voranstchn; daß er daheim und innerhalb
seiner Familie im vortheilhaftern Licht erscheint. Das patriarchalische Regiment,


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[0422] Schiller's Werken auch wol einen verschlissenen Griechen, oder Römer. Andererseits findet sich aber bei den Marschbauern auch viel sittliche Rohheit. Die Viehzucht, welche eine Hauptbeschäftigung dieser Leute bildet, bringt ihnen bei wenig Mühe viel ein. Zudem führt der reiche Hausmann bei seiner Landwirthschaft blos die Aufsicht, während auf der Geest Herr und Knecht gemeinschaftlich Hand anlegen. Da wird denn die Zeit mit Trinken und Spiel vergeudet. Es kommt nicht sel¬ ten vor,^ daß eine Gesellschaft Bauern, die Winters nach der Kirche fährt — alle natürlich in eigenen Stnhlwagen und mit eigenen Rossen, die mancher Stadtequi¬ page zur Zierde gereichen würden — nach dem Gottesdienste im Wirthshause bei Bordeaux und Karten festklebt, und den Nachmittag, die Nacht, den folgenden Tag, ja mehrere Tage, und selbst die Woche lang hinter dem Schenktisch sitzt, so daß der Einzelne seine hundert Thaler in die Schanze schlägt. Das Vergnü¬ gen bei solchen wüsten Gelagen ist nicht groß; aber man kehrt mit dem stolzen Bewußtsein zurück, dnrch die That bewiesen zu haben, daß man viel verprassen kann, ohne sich weh zu thun. Und wie es die Herren im Großen treiben, so die Knechte im Kleinen. Während es auf der Geest Sitte ist, daß die Heirathen erst dann geschlossen werden, wenn beide Theile sich so viel erworben haben, daß sie wenigstens Bett und Kuh mitbringen, mag auch die Braut el» wenig in die Jahre kommen, so vergeuden die Dienstboten in der Marsch nicht selten ihren hohen Lohn völlig, und treten dann, im Vertrauen ans diese ihre Einnahme, völlig kahl in die Ehe. Daher auch den Reimspruch, der in der Marsch gäng und gäbe ist: De Jungfer is Brut; Ar Füür geit ut. Ar Elend geit an. (Die Jungfer ist Braut; ihr Feuer.geht aus, ihr Elend geht an.) Natürlich; denn die jungeu Leute beginnen mit Schulden, aus denen sie sich oft nicht wieder hergnszuwickeln vermögen. Unter den oldenbnrger Marschbewohnem zeichnet sich der Jeverländer beson¬ ders dnrch Intelligenz und Originalität ans. Bei ihm machten sich zuerst in der friedlichen Zeit vor i>8 politische Bedürfnisse geltend; es war dort der Sitz der Opposition. Unter den berühmten Männern, welche diesen grünen Streifen Landes Heimath nennen, hebe ich beispielsweise nur den Historiker Schlosser her¬ vor, dessen kernige Friesennatnr sich in der bittern Verfolgung aller Fürstentyrannci bekundet; mit scharfer Feder setzt er de» Kampf fort, den die Stedinger vor mehr als sechshundert Jahren mit Schwert und Hellebarde führten. Im Allgemeinen gilt von dem Oldenburger, was in schwächerem Grade von dem Deutschen überhaupt gesagt werden kann, nämlich daß seine häuslichen Tu¬ genden den geselligen und politischen voranstchn; daß er daheim und innerhalb seiner Familie im vortheilhaftern Licht erscheint. Das patriarchalische Regiment,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/422>, abgerufen am 24.07.2024.