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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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wir Gesichte und Töne; wir fühlen einen tiefen Hades, der seine unendlichen
Fluthen rings um uns, unter uus und über uns bewegt, und die feste Arche
unsres Lebens erschüttert, als ob sie brechen sollte, und mitten in dieser wüsten
Brandung hören wir sanfte Geisterstimmen, die uns den Sinn dieses Geheim¬
nisses zu enträthseln scheinen, und wir rufen ihnen zu: Kommt naher, kommt
näher! Nehmt den Schatten weg, der sich über unser Leben breitet, lehrt uns
den Gesang, den ihr singt! Und mögen sie um schweigen oder antworten, wir
lächeln in unsren Gedanken, denn von dem zu träumen, was uns entzückt, ist
eben so entzückend, als es zu kennen. Der Athem der Geheimnisse spielt um
unser Antlitz, wir fragen nicht nach ihrem Namen, Die Liebe erlöst uns von
unsrer Gefangenschaft, und wir singen iii lautem Echo den Gesang der Geister
nach, wie wir ihn zu vernehmen glaubten."

Das ist ungefähr auch der Sinn des größten unter ihren Gedichten: "Das
Drama der Verbannung". Es ist ein lyrisches Mysterium, in dem der Mensch
als ein, gefallener Engel erscheint, welcher sich des Himmels erinnert. Im An¬
fang desselben entfernen sich Adam und Eva aus ihrer Heimath. Sie fliehen
durch das glühend rothe Licht, mit welchem der göttliche Zorn die Erde beleuch¬
tet, und aus der Ferne, die hinter ihnen bleibt, vernehmen sie einen geheimniß-
vollen Gesang; es sind die Geister des verlorenen Paradieses, die Düfte seiner
Blumen und der Wiederhall seiner Melodien, die ihnen Lebewohl sagen und ihnen
versprechen, daß sie ihnen überall hin folgen wollen. -- Die Stimmen werden
unterbrochen; die Flüchtigen bemerken vor sich unbestimmte Schatten, die allmählich
in der Form des Thierkreises sich vor ihnen ausbreiten; es sind die Symbole der Na¬
turkräfte, die durch den Fall des Menschen ebenfalls ihre Reinheit verloren haben
und die ihm nun einen unerbittlichen Krieg erklären. Mit ihren Drohungen
mischt sich die Stimme des Versuchers, der sein Opfer verhöhnt. Ein heftiger
Wind entführt Eva die einzige Blume, die sie an ihre vergangenen Freuden
erinnerte; mit ihr schwindet auch die Hoffnung, und Eva fällt zur Erde nieder;
aber der Wind wendet sich wieder und führt ihr die Stimmen der zukünftigen Mensch¬
heit zu, die aus ihrem Schooß hervorgehen soll. Sie fühlt im voraus das erste
Lächeln der Kindheit, die Begeisterung der Jugend, die Wiederherstellung gött¬
licher Gedanken durch Kunst und Wissenschaft.^ Endlich erscheint Christus in der
Ferne, überwältigt die aufrührerische Natur, und von ihr begeistert, ruft Adam
dem Weibe zu, sich wieder zu erheben: "Du hast die Sünde in die Welt gebracht,
aber in dir keimt auch die Saat, durch welche die Sünde sterben soll. Erhebe
die Majestät deiner kummervollen Stirn, Vielgeliebte! sei groß, um das Gute zu
thun und das Leiden zu ertragen, um das Leiden zu trösten und das Gute zu lehren,
, rin das.Gute und das Leiden in die Geduld einer ewigen Hoffnung zusammen¬
zuschmelzen. Wenn dn die Welt dem Leiden geöffnet hast, so sollst du auch als
tröstender Engel durch die Welt gehen. In deinem Geschick wirst du Schmerzen


wir Gesichte und Töne; wir fühlen einen tiefen Hades, der seine unendlichen
Fluthen rings um uns, unter uus und über uns bewegt, und die feste Arche
unsres Lebens erschüttert, als ob sie brechen sollte, und mitten in dieser wüsten
Brandung hören wir sanfte Geisterstimmen, die uns den Sinn dieses Geheim¬
nisses zu enträthseln scheinen, und wir rufen ihnen zu: Kommt naher, kommt
näher! Nehmt den Schatten weg, der sich über unser Leben breitet, lehrt uns
den Gesang, den ihr singt! Und mögen sie um schweigen oder antworten, wir
lächeln in unsren Gedanken, denn von dem zu träumen, was uns entzückt, ist
eben so entzückend, als es zu kennen. Der Athem der Geheimnisse spielt um
unser Antlitz, wir fragen nicht nach ihrem Namen, Die Liebe erlöst uns von
unsrer Gefangenschaft, und wir singen iii lautem Echo den Gesang der Geister
nach, wie wir ihn zu vernehmen glaubten."

Das ist ungefähr auch der Sinn des größten unter ihren Gedichten: „Das
Drama der Verbannung". Es ist ein lyrisches Mysterium, in dem der Mensch
als ein, gefallener Engel erscheint, welcher sich des Himmels erinnert. Im An¬
fang desselben entfernen sich Adam und Eva aus ihrer Heimath. Sie fliehen
durch das glühend rothe Licht, mit welchem der göttliche Zorn die Erde beleuch¬
tet, und aus der Ferne, die hinter ihnen bleibt, vernehmen sie einen geheimniß-
vollen Gesang; es sind die Geister des verlorenen Paradieses, die Düfte seiner
Blumen und der Wiederhall seiner Melodien, die ihnen Lebewohl sagen und ihnen
versprechen, daß sie ihnen überall hin folgen wollen. — Die Stimmen werden
unterbrochen; die Flüchtigen bemerken vor sich unbestimmte Schatten, die allmählich
in der Form des Thierkreises sich vor ihnen ausbreiten; es sind die Symbole der Na¬
turkräfte, die durch den Fall des Menschen ebenfalls ihre Reinheit verloren haben
und die ihm nun einen unerbittlichen Krieg erklären. Mit ihren Drohungen
mischt sich die Stimme des Versuchers, der sein Opfer verhöhnt. Ein heftiger
Wind entführt Eva die einzige Blume, die sie an ihre vergangenen Freuden
erinnerte; mit ihr schwindet auch die Hoffnung, und Eva fällt zur Erde nieder;
aber der Wind wendet sich wieder und führt ihr die Stimmen der zukünftigen Mensch¬
heit zu, die aus ihrem Schooß hervorgehen soll. Sie fühlt im voraus das erste
Lächeln der Kindheit, die Begeisterung der Jugend, die Wiederherstellung gött¬
licher Gedanken durch Kunst und Wissenschaft.^ Endlich erscheint Christus in der
Ferne, überwältigt die aufrührerische Natur, und von ihr begeistert, ruft Adam
dem Weibe zu, sich wieder zu erheben: „Du hast die Sünde in die Welt gebracht,
aber in dir keimt auch die Saat, durch welche die Sünde sterben soll. Erhebe
die Majestät deiner kummervollen Stirn, Vielgeliebte! sei groß, um das Gute zu
thun und das Leiden zu ertragen, um das Leiden zu trösten und das Gute zu lehren,
, rin das.Gute und das Leiden in die Geduld einer ewigen Hoffnung zusammen¬
zuschmelzen. Wenn dn die Welt dem Leiden geöffnet hast, so sollst du auch als
tröstender Engel durch die Welt gehen. In deinem Geschick wirst du Schmerzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/395>, abgerufen am 24.07.2024.