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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Katastrophe. Rollen enthüllt seiner Braut, mit der er nnn auf das Glücklichste
zusammen lebt, das Geheimniß der Korrespondenz. Sie wird darüber wahn¬
sinnig, indem sie einen idealen Rollen liebt, den sie von dem wirklichen Rollen
trennt. Dieser Wahnsinn wird bis in die kleinsten Züge verfolgt, und zwar
in so überraschenden und frappanten Wendungen, daß wir uns unwillkürlich
angezogen fühlen, obgleich wir ein Gesetz darin nicht mehr herauserkennen.
Nachdem das unheimliche Wesen sich immerfort gesteigert hat, bleibt endlich Nichts
weiter übrig, als daß wirkliche Gespenster oder noch fabelhaftere Erscheinungen
eintrete", n.ut daß zuletzt Alles umkommt.

Diese Krankhaftigkeit in der Anlage der Charaktere äußert sich natürlich auch
in der Durchführung der Handlung. Der Dichter sieht sich fortwährend genöthigt, sich
theils auf Künftiges, theils ans Vorhergehendes zum Verständniß der jedesmaligen
Situation zu beziehen und dadurch den Leser zu verwirren. So wird zuweilen die
Handlung unnöthig retardirt, zuweilen werden aber anch so kühne Sprünge gemacht,
' daß wir uns mir mit einiger Mühe orientiren können. Ans diese Weise ist es unmöglich,
Licht und Schatten so zweckmäßig zu vertheilen, daß die Geschichte eine bestimmte
Physiognomie gewinnt, obgleich die leitende Tendenz durch sehr starke und zuwei¬
len grelle Grundstriche überall angedeutet wird. Das ist ein Fehler in der
Komposition, den sich auch Goethe, z. B. im Wilhelm Meister, hat zu Schulden
kommen lasse", und es scheint seit der Zeit in Deutschland die Ansicht festgestellt
zu sein, daß man sich nur durch eine gewisse Unvollständigkeit in der Erzählung
als einen geistreichen Mann legitimiren könne. An diesem Uebelstande leiden z. B.
Leopold Schefer,, Steffens, Scalsfield, Heinrich König n. A.

Vielleicht ist sowol in Beziehung auf die Komposition als auf die Charakter¬
bildung der wesentliche Grund dieses Krankhaften der Mangel an einem festen
Idealismus. Es sieht so aus, als ob der Dichter für die Charaktere nicht ein
festes Gesetz mitbringt, sondern sie zuerst nur von einer einzelnen Seite auffaßt,
und sich dann in dieselben so vertieft, daß durch Ideenassociation sich eine Reihe
neuer Vorstellungen daran knüpfen, die den Charakter mehr zu einem Aggregat
von geistreichen Anschauungen, als zu einem lebendigen Organismus machen.
Sehr begünstigt wird diese Neigung durch die Gewohnheit, Künstler zum Gegen¬
stand der Romane zu machen, und in dem Doppelleben, welche diese im Reich
der Träume, wie im Reich der Wirklichkeit führen, sich so zu verirren, daß man
das eine nicht mehr vom andern unterscheiden kann. Kommt dann noch die bittere
Ironie hinzu, mit der man sich an seinen eigenen frühern Illusionen rächt, so ist der
unheimliche Eindruck leicht zu begreifen, den daS plötzliche Ueberspringen aus
einer Stimmung in die andere machen muß. Die gescheidtesten und liebenswür¬
digsten Figuren überraschen uns dann zuweilen dnrch eine Wendung, deren Mo¬
tiv weder wir noch sie selber enträthseln, die aber so fratzenhaft ist, daß wir uns
davor entsetzen. Wir halten das für ein falsches Princip der Kunst. Im Leben


Katastrophe. Rollen enthüllt seiner Braut, mit der er nnn auf das Glücklichste
zusammen lebt, das Geheimniß der Korrespondenz. Sie wird darüber wahn¬
sinnig, indem sie einen idealen Rollen liebt, den sie von dem wirklichen Rollen
trennt. Dieser Wahnsinn wird bis in die kleinsten Züge verfolgt, und zwar
in so überraschenden und frappanten Wendungen, daß wir uns unwillkürlich
angezogen fühlen, obgleich wir ein Gesetz darin nicht mehr herauserkennen.
Nachdem das unheimliche Wesen sich immerfort gesteigert hat, bleibt endlich Nichts
weiter übrig, als daß wirkliche Gespenster oder noch fabelhaftere Erscheinungen
eintrete», n.ut daß zuletzt Alles umkommt.

Diese Krankhaftigkeit in der Anlage der Charaktere äußert sich natürlich auch
in der Durchführung der Handlung. Der Dichter sieht sich fortwährend genöthigt, sich
theils auf Künftiges, theils ans Vorhergehendes zum Verständniß der jedesmaligen
Situation zu beziehen und dadurch den Leser zu verwirren. So wird zuweilen die
Handlung unnöthig retardirt, zuweilen werden aber anch so kühne Sprünge gemacht,
' daß wir uns mir mit einiger Mühe orientiren können. Ans diese Weise ist es unmöglich,
Licht und Schatten so zweckmäßig zu vertheilen, daß die Geschichte eine bestimmte
Physiognomie gewinnt, obgleich die leitende Tendenz durch sehr starke und zuwei¬
len grelle Grundstriche überall angedeutet wird. Das ist ein Fehler in der
Komposition, den sich auch Goethe, z. B. im Wilhelm Meister, hat zu Schulden
kommen lasse», und es scheint seit der Zeit in Deutschland die Ansicht festgestellt
zu sein, daß man sich nur durch eine gewisse Unvollständigkeit in der Erzählung
als einen geistreichen Mann legitimiren könne. An diesem Uebelstande leiden z. B.
Leopold Schefer,, Steffens, Scalsfield, Heinrich König n. A.

Vielleicht ist sowol in Beziehung auf die Komposition als auf die Charakter¬
bildung der wesentliche Grund dieses Krankhaften der Mangel an einem festen
Idealismus. Es sieht so aus, als ob der Dichter für die Charaktere nicht ein
festes Gesetz mitbringt, sondern sie zuerst nur von einer einzelnen Seite auffaßt,
und sich dann in dieselben so vertieft, daß durch Ideenassociation sich eine Reihe
neuer Vorstellungen daran knüpfen, die den Charakter mehr zu einem Aggregat
von geistreichen Anschauungen, als zu einem lebendigen Organismus machen.
Sehr begünstigt wird diese Neigung durch die Gewohnheit, Künstler zum Gegen¬
stand der Romane zu machen, und in dem Doppelleben, welche diese im Reich
der Träume, wie im Reich der Wirklichkeit führen, sich so zu verirren, daß man
das eine nicht mehr vom andern unterscheiden kann. Kommt dann noch die bittere
Ironie hinzu, mit der man sich an seinen eigenen frühern Illusionen rächt, so ist der
unheimliche Eindruck leicht zu begreifen, den daS plötzliche Ueberspringen aus
einer Stimmung in die andere machen muß. Die gescheidtesten und liebenswür¬
digsten Figuren überraschen uns dann zuweilen dnrch eine Wendung, deren Mo¬
tiv weder wir noch sie selber enträthseln, die aber so fratzenhaft ist, daß wir uns
davor entsetzen. Wir halten das für ein falsches Princip der Kunst. Im Leben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/314>, abgerufen am 04.07.2024.