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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Vorwärtsschreiten des deutschen Geistes, der seit etwa 20 Jahren sich zuerst über
Frankreich und England ausdehnte, und nun in der neuen Welt einen sehr
energischen Brennpunkt gefunden zu haben scheint, jener träumerische Geist, der
trotz seines mondscheinartigen Aussehens so viel revolutionairen Stoff in sich ver¬
birgt, daß auch er in der Weltgeschichte seine ganz entschiedene Mission haben
wird, so gut wie die materialistischen und idealistischen Schulen der französischen
Philosophie im vorigen Jahrhundert. Wenn wir ans den entschiedensten Reprä¬
sentanten dieser geistigen Richtung in England, aus Thomas Carlyle, kommen,
werden wir Gelegenheit haben, diese geheimen Fäden deutlicher zu entwickeln:
das gegenwärtige Buch selbst erinnert durch seinen Ton und seine Tendenz wesent¬
lich an das kurze Zeit früher erschienene "Leben Sterling's" von Carlyle, das
weniger seines biographischen, als seines ästhetisch-dogmatischen Inhalts wegen
Aufsehen gemacht hat.




Wochenb erlebt.

Die Miliz scheint es darauf abgesehen zu haben, Lord Rüssel zu Grunde zu rich¬
ten. Seine eigene Milizbill stürzte sein Ministerium, die Milizbill seiner nun im Amte
befindlichen Gegner hat so eben seinen Ruf als parlamentarischer Taktiker schwer be¬
schädigt, seine Stellung als Parteioberhaupt aus das Ernstlichste gefährdet. Als am
23. im Unterhause die Debatte über die ministerielle Milizbill eröffnet wurde, schwelgte
das Organ des ehemaligen Whigchess schon in der sichern Aussicht, sie den Manen
ihrer Vorgängerin geopfert zu sehen, und prophezeite ihre sichere Verwerfung. Die bis
zum Montag vertagte Debatte ergab aber die glänzende Majorität von 150 Stimmen für
den ministeriellen Plan. Dieses Resultat hat Lord Russel lediglich seinem übermäßigen
Selbstvertrauen, seiner eigensinnigen Unzugänglichkeit für fremden Rath zu verdanken.
Seitdem er im Groll über die schlechte Disciplin seiner, schlaffgeleitcten Schaar den
Commandostab von sich geworfen, hat er als Führer der Opposition eine Rolle ge¬
spielt, die ihm nach und nach seine besten und zuverlässigsten Anhänger entfremden
mußte. Anstatt seine Partei aus einer breitern liberal-conservativen Basis neu zu con-
stituiren, wendete er sich den Radicalen zu, über deren geistiges Niveau er freilich weit
bedeutender hervorragte, als über das seiner bisherigen Parteigenossen, und suchte sie
durch neue Concessionen zu gewinnen. Anstatt ruhig abzuwarten, bis der natürliche
Gang der Ereignisse die Säumigen und Fahnenflüchtigen seiner Partei die unbedingte
Nothwendigkeit lehre, sich, ohne zu wanken, um ihren Führer zu schließen, wenn sie nicht
Alles verlieren wollten, mischt er sich in jeden kleinen Streit, zeigt sich eifersüchtig
gegen jeden mit ihm rivalisirenden Führer, und jedem Plane feind, in welchem er
nicht die Hauptrolle spielt. Sein letzter und größter Fehler aber war seine Taktik bei
der Berathung über die ministerielle Milizbill. Als noch während des Bestehens seines
eigenen Cabinets das gegenwärtige Parlament eröffnet wurde, forderte die Königin


Vorwärtsschreiten des deutschen Geistes, der seit etwa 20 Jahren sich zuerst über
Frankreich und England ausdehnte, und nun in der neuen Welt einen sehr
energischen Brennpunkt gefunden zu haben scheint, jener träumerische Geist, der
trotz seines mondscheinartigen Aussehens so viel revolutionairen Stoff in sich ver¬
birgt, daß auch er in der Weltgeschichte seine ganz entschiedene Mission haben
wird, so gut wie die materialistischen und idealistischen Schulen der französischen
Philosophie im vorigen Jahrhundert. Wenn wir ans den entschiedensten Reprä¬
sentanten dieser geistigen Richtung in England, aus Thomas Carlyle, kommen,
werden wir Gelegenheit haben, diese geheimen Fäden deutlicher zu entwickeln:
das gegenwärtige Buch selbst erinnert durch seinen Ton und seine Tendenz wesent¬
lich an das kurze Zeit früher erschienene „Leben Sterling's" von Carlyle, das
weniger seines biographischen, als seines ästhetisch-dogmatischen Inhalts wegen
Aufsehen gemacht hat.




Wochenb erlebt.

Die Miliz scheint es darauf abgesehen zu haben, Lord Rüssel zu Grunde zu rich¬
ten. Seine eigene Milizbill stürzte sein Ministerium, die Milizbill seiner nun im Amte
befindlichen Gegner hat so eben seinen Ruf als parlamentarischer Taktiker schwer be¬
schädigt, seine Stellung als Parteioberhaupt aus das Ernstlichste gefährdet. Als am
23. im Unterhause die Debatte über die ministerielle Milizbill eröffnet wurde, schwelgte
das Organ des ehemaligen Whigchess schon in der sichern Aussicht, sie den Manen
ihrer Vorgängerin geopfert zu sehen, und prophezeite ihre sichere Verwerfung. Die bis
zum Montag vertagte Debatte ergab aber die glänzende Majorität von 150 Stimmen für
den ministeriellen Plan. Dieses Resultat hat Lord Russel lediglich seinem übermäßigen
Selbstvertrauen, seiner eigensinnigen Unzugänglichkeit für fremden Rath zu verdanken.
Seitdem er im Groll über die schlechte Disciplin seiner, schlaffgeleitcten Schaar den
Commandostab von sich geworfen, hat er als Führer der Opposition eine Rolle ge¬
spielt, die ihm nach und nach seine besten und zuverlässigsten Anhänger entfremden
mußte. Anstatt seine Partei aus einer breitern liberal-conservativen Basis neu zu con-
stituiren, wendete er sich den Radicalen zu, über deren geistiges Niveau er freilich weit
bedeutender hervorragte, als über das seiner bisherigen Parteigenossen, und suchte sie
durch neue Concessionen zu gewinnen. Anstatt ruhig abzuwarten, bis der natürliche
Gang der Ereignisse die Säumigen und Fahnenflüchtigen seiner Partei die unbedingte
Nothwendigkeit lehre, sich, ohne zu wanken, um ihren Führer zu schließen, wenn sie nicht
Alles verlieren wollten, mischt er sich in jeden kleinen Streit, zeigt sich eifersüchtig
gegen jeden mit ihm rivalisirenden Führer, und jedem Plane feind, in welchem er
nicht die Hauptrolle spielt. Sein letzter und größter Fehler aber war seine Taktik bei
der Berathung über die ministerielle Milizbill. Als noch während des Bestehens seines
eigenen Cabinets das gegenwärtige Parlament eröffnet wurde, forderte die Königin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/283>, abgerufen am 04.07.2024.