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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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andern gaben, bis endlich die Uhr in der Ecke zwölf schlug und die Gewichte mit
einem fremdartigen, zornigen Rasseln niederrollten."

Muß man dieses Werk trotz vieler einzelnen Schönheiten bei seiner seltsamen
Verwirrung als ein verfehltes bezeichnen, so kann man um so mehr Gutes sagen
von einem epischen Gedicht: Evangeline. Der Stoff hat Aehnlichkeit mit dem
seiner Zeit sehr weit verbreiteten Gedicht von Campbell: Gertrud von Wyoming.
Der acadischen Pflanzung Longprv, die im Lause der Zeit an die Engländer
gekommen, wurde durch die Willkür des englischen Commandanten -1735 ein
gewaltsames Ende gemacht, und die Pflanzer nach den verschiedensten Richtungen
hin zerstreuet. Der Inhalt des Gedichts ist um, daß ein Mädchen ans dieser
verbannten Kolonie, Evangeline, ihren Geliebten viele Jahre hindurch aufsucht,
bis sie ihn endlich im Sterben miederfindet. Die Ausführung dieses Stoffs ist
durch und durch poetisch, während bei Campbell die ähnliche Geschichte vom Unter¬
gang der Kolonie Wyoming nur zu rhetorischen Ausbrüchen geführt hatte. In
formeller Beziehung ist das Vorbild dieses Gedichts Goethe's Hermann und
Dorothea, welches auch den Versasser veranlaßt hat, sein Werk in Hexametern
zu schreiben, die sich im Englischen curios genug ausnehmen. (Eine deutsche,
in Hamburg bei Perthes und Maule erschienene Uebersetzung, die sonst in vieler
Beziehung zu empfehlen ist, ahmt mit großer Geschicklichkeit auch diese schlechten
englischen Hexameter nach.) Aber wenn wir davon absehen, daß ohne das Vor¬
bild von Hermann und Dorothea die Evangeline wenigstens in dieser Form wahr¬
scheinlich nicht geschrieben wäre, so müssen wir sie in jeder andern Beziehung
als ein vortreffliches Originalwerk anerkennen. Der Dust, der sich über die
landschaftlichen Schilderungen verbreitet, ist so poetisch, die Zeichnung so deutlich
und harmonisch, die Empfindungen so sinnig und zart, daß man die historische
Kontinuität, die bei einem idyllischen Gedicht dieser Art sonst die Hauptsache zu
sein pflegt, nicht vermißt. -- Zu bemerken ist noch die religiöse Toleranz. In
Evangeline haben wir die katholische Weltanschauung, die mit dem andächtigen
Gefühle eines Gläubigen wiedergegeben wird, in Kavanagh den Protestantis¬
mus. Das ist nicht Gleichgiltigkeit gegen die Religion, deren Grundzüge Long-
fellow vielmehr immer mit großer Wärme festhält, aber es ist doch schon ein
Zeichen von dem wachsenden Einfluß der philosophischen Speculation auf die
religiöse Anschauung, der, wenn er sich weiter ausdehnt, für die Einseitigkeiten des
amerikanischen Sectcnwesens sehr heilsam werden muß.

Aus der harmonischen und zugleich unbefangenen Weltanschauung der Evan¬
geline ist der Dichter in seinem neuesten Werke: Die goldene Legende wieder
ins Unübersehbare und Transscendente übergetreten. Es ist dieses angeblich dra-
- malische Gedicht einer von den vielen unglücklichen Versuchen, die Goethe's Faust
in der neuern Literatur hervorgerufen hat. -- So wie die Gedanken, Vorstellun¬
gen und Begebenheiten sich in gesetzloser Willkür durch einander wirren, so geht


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andern gaben, bis endlich die Uhr in der Ecke zwölf schlug und die Gewichte mit
einem fremdartigen, zornigen Rasseln niederrollten."

Muß man dieses Werk trotz vieler einzelnen Schönheiten bei seiner seltsamen
Verwirrung als ein verfehltes bezeichnen, so kann man um so mehr Gutes sagen
von einem epischen Gedicht: Evangeline. Der Stoff hat Aehnlichkeit mit dem
seiner Zeit sehr weit verbreiteten Gedicht von Campbell: Gertrud von Wyoming.
Der acadischen Pflanzung Longprv, die im Lause der Zeit an die Engländer
gekommen, wurde durch die Willkür des englischen Commandanten -1735 ein
gewaltsames Ende gemacht, und die Pflanzer nach den verschiedensten Richtungen
hin zerstreuet. Der Inhalt des Gedichts ist um, daß ein Mädchen ans dieser
verbannten Kolonie, Evangeline, ihren Geliebten viele Jahre hindurch aufsucht,
bis sie ihn endlich im Sterben miederfindet. Die Ausführung dieses Stoffs ist
durch und durch poetisch, während bei Campbell die ähnliche Geschichte vom Unter¬
gang der Kolonie Wyoming nur zu rhetorischen Ausbrüchen geführt hatte. In
formeller Beziehung ist das Vorbild dieses Gedichts Goethe's Hermann und
Dorothea, welches auch den Versasser veranlaßt hat, sein Werk in Hexametern
zu schreiben, die sich im Englischen curios genug ausnehmen. (Eine deutsche,
in Hamburg bei Perthes und Maule erschienene Uebersetzung, die sonst in vieler
Beziehung zu empfehlen ist, ahmt mit großer Geschicklichkeit auch diese schlechten
englischen Hexameter nach.) Aber wenn wir davon absehen, daß ohne das Vor¬
bild von Hermann und Dorothea die Evangeline wenigstens in dieser Form wahr¬
scheinlich nicht geschrieben wäre, so müssen wir sie in jeder andern Beziehung
als ein vortreffliches Originalwerk anerkennen. Der Dust, der sich über die
landschaftlichen Schilderungen verbreitet, ist so poetisch, die Zeichnung so deutlich
und harmonisch, die Empfindungen so sinnig und zart, daß man die historische
Kontinuität, die bei einem idyllischen Gedicht dieser Art sonst die Hauptsache zu
sein pflegt, nicht vermißt. — Zu bemerken ist noch die religiöse Toleranz. In
Evangeline haben wir die katholische Weltanschauung, die mit dem andächtigen
Gefühle eines Gläubigen wiedergegeben wird, in Kavanagh den Protestantis¬
mus. Das ist nicht Gleichgiltigkeit gegen die Religion, deren Grundzüge Long-
fellow vielmehr immer mit großer Wärme festhält, aber es ist doch schon ein
Zeichen von dem wachsenden Einfluß der philosophischen Speculation auf die
religiöse Anschauung, der, wenn er sich weiter ausdehnt, für die Einseitigkeiten des
amerikanischen Sectcnwesens sehr heilsam werden muß.

Aus der harmonischen und zugleich unbefangenen Weltanschauung der Evan¬
geline ist der Dichter in seinem neuesten Werke: Die goldene Legende wieder
ins Unübersehbare und Transscendente übergetreten. Es ist dieses angeblich dra-
- malische Gedicht einer von den vielen unglücklichen Versuchen, die Goethe's Faust
in der neuern Literatur hervorgerufen hat. — So wie die Gedanken, Vorstellun¬
gen und Begebenheiten sich in gesetzloser Willkür durch einander wirren, so geht


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[0277] andern gaben, bis endlich die Uhr in der Ecke zwölf schlug und die Gewichte mit einem fremdartigen, zornigen Rasseln niederrollten." Muß man dieses Werk trotz vieler einzelnen Schönheiten bei seiner seltsamen Verwirrung als ein verfehltes bezeichnen, so kann man um so mehr Gutes sagen von einem epischen Gedicht: Evangeline. Der Stoff hat Aehnlichkeit mit dem seiner Zeit sehr weit verbreiteten Gedicht von Campbell: Gertrud von Wyoming. Der acadischen Pflanzung Longprv, die im Lause der Zeit an die Engländer gekommen, wurde durch die Willkür des englischen Commandanten -1735 ein gewaltsames Ende gemacht, und die Pflanzer nach den verschiedensten Richtungen hin zerstreuet. Der Inhalt des Gedichts ist um, daß ein Mädchen ans dieser verbannten Kolonie, Evangeline, ihren Geliebten viele Jahre hindurch aufsucht, bis sie ihn endlich im Sterben miederfindet. Die Ausführung dieses Stoffs ist durch und durch poetisch, während bei Campbell die ähnliche Geschichte vom Unter¬ gang der Kolonie Wyoming nur zu rhetorischen Ausbrüchen geführt hatte. In formeller Beziehung ist das Vorbild dieses Gedichts Goethe's Hermann und Dorothea, welches auch den Versasser veranlaßt hat, sein Werk in Hexametern zu schreiben, die sich im Englischen curios genug ausnehmen. (Eine deutsche, in Hamburg bei Perthes und Maule erschienene Uebersetzung, die sonst in vieler Beziehung zu empfehlen ist, ahmt mit großer Geschicklichkeit auch diese schlechten englischen Hexameter nach.) Aber wenn wir davon absehen, daß ohne das Vor¬ bild von Hermann und Dorothea die Evangeline wenigstens in dieser Form wahr¬ scheinlich nicht geschrieben wäre, so müssen wir sie in jeder andern Beziehung als ein vortreffliches Originalwerk anerkennen. Der Dust, der sich über die landschaftlichen Schilderungen verbreitet, ist so poetisch, die Zeichnung so deutlich und harmonisch, die Empfindungen so sinnig und zart, daß man die historische Kontinuität, die bei einem idyllischen Gedicht dieser Art sonst die Hauptsache zu sein pflegt, nicht vermißt. — Zu bemerken ist noch die religiöse Toleranz. In Evangeline haben wir die katholische Weltanschauung, die mit dem andächtigen Gefühle eines Gläubigen wiedergegeben wird, in Kavanagh den Protestantis¬ mus. Das ist nicht Gleichgiltigkeit gegen die Religion, deren Grundzüge Long- fellow vielmehr immer mit großer Wärme festhält, aber es ist doch schon ein Zeichen von dem wachsenden Einfluß der philosophischen Speculation auf die religiöse Anschauung, der, wenn er sich weiter ausdehnt, für die Einseitigkeiten des amerikanischen Sectcnwesens sehr heilsam werden muß. Aus der harmonischen und zugleich unbefangenen Weltanschauung der Evan¬ geline ist der Dichter in seinem neuesten Werke: Die goldene Legende wieder ins Unübersehbare und Transscendente übergetreten. Es ist dieses angeblich dra- - malische Gedicht einer von den vielen unglücklichen Versuchen, die Goethe's Faust in der neuern Literatur hervorgerufen hat. — So wie die Gedanken, Vorstellun¬ gen und Begebenheiten sich in gesetzloser Willkür durch einander wirren, so geht Zj,»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/277>, abgerufen am 24.07.2024.