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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Schumann's neuesten Werken uns entgegentreten. Es sind dieselben schon früher
von uns angedeutet worden. Schumann hatte in den Werken seiner letzten Periode
die jugendliche Schwungkraft verloren, der Born seiner Melodien war mit Willen
von ihm zurückgebannt worden. An die Stelle der aus sprudelnder Begeisterung
entsprungenen Werke waren ernste, sast gegrübelte getreten; es galt ihm mehr,
den Künstlern sich als tüchtig geschulter Musicus, wie als Dichter zu zeigen. Da¬
her verschmäht er es, durch melodische Kraft zu wirken, er zieht die Polyphonische
Schreibweise vor, und zeigt sich geschickt in kunstvollen Wendungen und außer¬
ordentlichen harmonischen Effecten. Schumann hat zu diesem Verfahren immer
Neigung gehabt, die deutlichsten Beweise geben davon die in seiner ersten roman¬
tischen Periode geschriebenen Clavierwerke. Frei von dieser Befangenheit erschei¬
nen seine späteren Lieder, die erste Symphonie, überhaupt alle in dieser Zeit ge¬
schriebenen Werke, sogar seine coutrapunktischen Studien, welche in der Freiheit
und Leichtigkeit der behandelten Motive fast Alles übertreffen, was die neueste
Zeit in diesem Fache der Komposition geleistet hat. Jetzt tritt er endlich mit
einer Menge Werke größern Umfangs hervor, und es beginnt die Zeit des
Nachdenkens und des männlichen Ernstes, in der er sich bestrebt, die früheren Er¬
innerungen aus seinem Gedächtniß zu verwischen. Ein Werk aus dieser Zeit
kann als Muster aller der jetzt folgenden, vornämlich der Gesangswerke gelten,
es ist die Oper Genovefa, die vor zwei Jahren einige Male auf der Leipziger
Bühne vorgeführt wurde. Der gründliche Kenner der früheren Werke konnte
bei dem Hören desselben keinen Augenblick in Zweifel bleiben, daß er die
Schöpfungen desselben TonsetzerS in sich aufnehme, dessen Lieder und dessen
Cantate "Paradies und Perl" er so lieb gewonnen hatte. Die Melodien waren
dieselben geblieben, die harmonische Factnr trug noch dieselben Grundzüge an
sich, die Formen zeichneten sich nicht durch wesentlich verschiedenes Gesicht ans.
Und doch durchwehte das Werk nicht mehr der jugendliche Hauch: die am Tage
liegende Absicht, Geistreiches und Tiefdurchdachtes zu geben, drückte den Hörer.
Es war auch für den gebildeten Künstler eine Ausgabe, mit ungeschwächter Kraft
dem Werke vom Anfange bis ans Ende zu folgen. Diese Unbehaglichkeit fand
ihren Grund hauptsächlich darin, daß den Sängern die Gelegenheit entzogen
war, mit Glück und Erfolg aus den vollen'Klängen des Orchesters herauszutreten,
daß eine fortwährend strenge Tempobewegung und ein absichtliches Vermeiden der
recitirenden Vortragsweise eine gewisse Gleichförmigkeit erzeugten. Es ist bei
vielen unsrer neuen deutschen Komponisten Sitte, bei einer besondern Schule'
derselben sogar Grundsatz geworden, den Sänger zum Declamator zu erniedrigen,
und ihm zur Verstärkung der meist zu betvucuden Worte Orchestereffecte als Unter¬
stützung beizugeben. Melodie, sagen sie, macht den Zuhörer gedankenlos, und
ihre längere Ausführung verhindert den richtigen Verlauf der dramatischen Action.
Wollten wir diese neuen Grundsätze folgerecht ausbilden, so würde der endliche


Schumann's neuesten Werken uns entgegentreten. Es sind dieselben schon früher
von uns angedeutet worden. Schumann hatte in den Werken seiner letzten Periode
die jugendliche Schwungkraft verloren, der Born seiner Melodien war mit Willen
von ihm zurückgebannt worden. An die Stelle der aus sprudelnder Begeisterung
entsprungenen Werke waren ernste, sast gegrübelte getreten; es galt ihm mehr,
den Künstlern sich als tüchtig geschulter Musicus, wie als Dichter zu zeigen. Da¬
her verschmäht er es, durch melodische Kraft zu wirken, er zieht die Polyphonische
Schreibweise vor, und zeigt sich geschickt in kunstvollen Wendungen und außer¬
ordentlichen harmonischen Effecten. Schumann hat zu diesem Verfahren immer
Neigung gehabt, die deutlichsten Beweise geben davon die in seiner ersten roman¬
tischen Periode geschriebenen Clavierwerke. Frei von dieser Befangenheit erschei¬
nen seine späteren Lieder, die erste Symphonie, überhaupt alle in dieser Zeit ge¬
schriebenen Werke, sogar seine coutrapunktischen Studien, welche in der Freiheit
und Leichtigkeit der behandelten Motive fast Alles übertreffen, was die neueste
Zeit in diesem Fache der Komposition geleistet hat. Jetzt tritt er endlich mit
einer Menge Werke größern Umfangs hervor, und es beginnt die Zeit des
Nachdenkens und des männlichen Ernstes, in der er sich bestrebt, die früheren Er¬
innerungen aus seinem Gedächtniß zu verwischen. Ein Werk aus dieser Zeit
kann als Muster aller der jetzt folgenden, vornämlich der Gesangswerke gelten,
es ist die Oper Genovefa, die vor zwei Jahren einige Male auf der Leipziger
Bühne vorgeführt wurde. Der gründliche Kenner der früheren Werke konnte
bei dem Hören desselben keinen Augenblick in Zweifel bleiben, daß er die
Schöpfungen desselben TonsetzerS in sich aufnehme, dessen Lieder und dessen
Cantate „Paradies und Perl" er so lieb gewonnen hatte. Die Melodien waren
dieselben geblieben, die harmonische Factnr trug noch dieselben Grundzüge an
sich, die Formen zeichneten sich nicht durch wesentlich verschiedenes Gesicht ans.
Und doch durchwehte das Werk nicht mehr der jugendliche Hauch: die am Tage
liegende Absicht, Geistreiches und Tiefdurchdachtes zu geben, drückte den Hörer.
Es war auch für den gebildeten Künstler eine Ausgabe, mit ungeschwächter Kraft
dem Werke vom Anfange bis ans Ende zu folgen. Diese Unbehaglichkeit fand
ihren Grund hauptsächlich darin, daß den Sängern die Gelegenheit entzogen
war, mit Glück und Erfolg aus den vollen'Klängen des Orchesters herauszutreten,
daß eine fortwährend strenge Tempobewegung und ein absichtliches Vermeiden der
recitirenden Vortragsweise eine gewisse Gleichförmigkeit erzeugten. Es ist bei
vielen unsrer neuen deutschen Komponisten Sitte, bei einer besondern Schule'
derselben sogar Grundsatz geworden, den Sänger zum Declamator zu erniedrigen,
und ihm zur Verstärkung der meist zu betvucuden Worte Orchestereffecte als Unter¬
stützung beizugeben. Melodie, sagen sie, macht den Zuhörer gedankenlos, und
ihre längere Ausführung verhindert den richtigen Verlauf der dramatischen Action.
Wollten wir diese neuen Grundsätze folgerecht ausbilden, so würde der endliche


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[0266] Schumann's neuesten Werken uns entgegentreten. Es sind dieselben schon früher von uns angedeutet worden. Schumann hatte in den Werken seiner letzten Periode die jugendliche Schwungkraft verloren, der Born seiner Melodien war mit Willen von ihm zurückgebannt worden. An die Stelle der aus sprudelnder Begeisterung entsprungenen Werke waren ernste, sast gegrübelte getreten; es galt ihm mehr, den Künstlern sich als tüchtig geschulter Musicus, wie als Dichter zu zeigen. Da¬ her verschmäht er es, durch melodische Kraft zu wirken, er zieht die Polyphonische Schreibweise vor, und zeigt sich geschickt in kunstvollen Wendungen und außer¬ ordentlichen harmonischen Effecten. Schumann hat zu diesem Verfahren immer Neigung gehabt, die deutlichsten Beweise geben davon die in seiner ersten roman¬ tischen Periode geschriebenen Clavierwerke. Frei von dieser Befangenheit erschei¬ nen seine späteren Lieder, die erste Symphonie, überhaupt alle in dieser Zeit ge¬ schriebenen Werke, sogar seine coutrapunktischen Studien, welche in der Freiheit und Leichtigkeit der behandelten Motive fast Alles übertreffen, was die neueste Zeit in diesem Fache der Komposition geleistet hat. Jetzt tritt er endlich mit einer Menge Werke größern Umfangs hervor, und es beginnt die Zeit des Nachdenkens und des männlichen Ernstes, in der er sich bestrebt, die früheren Er¬ innerungen aus seinem Gedächtniß zu verwischen. Ein Werk aus dieser Zeit kann als Muster aller der jetzt folgenden, vornämlich der Gesangswerke gelten, es ist die Oper Genovefa, die vor zwei Jahren einige Male auf der Leipziger Bühne vorgeführt wurde. Der gründliche Kenner der früheren Werke konnte bei dem Hören desselben keinen Augenblick in Zweifel bleiben, daß er die Schöpfungen desselben TonsetzerS in sich aufnehme, dessen Lieder und dessen Cantate „Paradies und Perl" er so lieb gewonnen hatte. Die Melodien waren dieselben geblieben, die harmonische Factnr trug noch dieselben Grundzüge an sich, die Formen zeichneten sich nicht durch wesentlich verschiedenes Gesicht ans. Und doch durchwehte das Werk nicht mehr der jugendliche Hauch: die am Tage liegende Absicht, Geistreiches und Tiefdurchdachtes zu geben, drückte den Hörer. Es war auch für den gebildeten Künstler eine Ausgabe, mit ungeschwächter Kraft dem Werke vom Anfange bis ans Ende zu folgen. Diese Unbehaglichkeit fand ihren Grund hauptsächlich darin, daß den Sängern die Gelegenheit entzogen war, mit Glück und Erfolg aus den vollen'Klängen des Orchesters herauszutreten, daß eine fortwährend strenge Tempobewegung und ein absichtliches Vermeiden der recitirenden Vortragsweise eine gewisse Gleichförmigkeit erzeugten. Es ist bei vielen unsrer neuen deutschen Komponisten Sitte, bei einer besondern Schule' derselben sogar Grundsatz geworden, den Sänger zum Declamator zu erniedrigen, und ihm zur Verstärkung der meist zu betvucuden Worte Orchestereffecte als Unter¬ stützung beizugeben. Melodie, sagen sie, macht den Zuhörer gedankenlos, und ihre längere Ausführung verhindert den richtigen Verlauf der dramatischen Action. Wollten wir diese neuen Grundsätze folgerecht ausbilden, so würde der endliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/266>, abgerufen am 24.07.2024.