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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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schen Formeln nur schwach versteckten Selbstregierung des Volkes reflectirt, kann
nicht in den mystischen Formeln so bis zum Fanatismus aufgehen, wie wir es
von dem Hofschulzen hören müssen. Diese innere Wiedergeburt des Mannes giebt
zwar dem Gedicht einen sehr artigen Abschluß, aber sie ist gegen Wahrheit und
Natur.

Es ist nicht zu läugnen, daß dieses an sich schon sehr schone Bild durch
den Contrast eine noch viel hellere Beleuchtung gewonnen hat; es erquickt uns,
wie den Dürstenden in der Wüste eine plötzlich Hervorsprudelude Quelle aus grü¬
ner Oase, wenn wir aus der schrecklichen Wüste der Münchhansenschen Witzeleien
in diesen üppigen, frischen Naturwuchs übergehen. Das Idyll bedarf überhaupt
eines Gegensatzes, um mit der richtige" Empfindung aufgenommen zu werden,
wenn dieser Gegensatz auch nur in dem Bewußtsein des lesenden Publicums liegt.
Auf der andern Seite werden wir aber durch die beständigen Beziehungen zu
der Müuchhausenschen Welt in unsrer Andacht gestört. Das hübsche Mädchen
in dem Hanse des Hofschulzen, an dem wir im Anfang so warmes Interesse nehmen,
verwandelt sich in ein Gespenst, wenn es sich als die Tochter Münchhausen's und
des Fräuleins von Schnickschnackschnurr herausstellt, und wir werden diesen ge¬
spenstischen Eindruck nicht los, anch wenn die Bedenklichkeiten des jungen Gra¬
sen gegen diese unheimliche Verbindung zuletzt beseitigt werden.

Mit diesem Idyll ragt Immermann bereits über die jungdeutsche Periode
heraus und in jene Periode hinein, in welcher man den Skepticismus und die
Blasirtheit des Epigonenthums, durch gewaltsame Rückkehr zur Natur zu über¬
winden suchte. Sein Beispiel hat nach dieser Richtung hin Epoche gemacht. Zwar
war der "Bauernspiegel" von Jeremias Gotthelf schon zwei Jahre früher erschienen
(1836), aber es dauerte lange, ehe er in Deutschland bekannt wurde, und die
Schwarzwälder Dorfgeschichten erschienen erst 18t3. Zwar glauben wir keines¬
wegs, daß mit dieser freiwilligen Rückkehr zur Beschränktheit Alles gethan ist.
Die Dorfgeschichten werden nnr dann einen dauerhaften, segensreichen Einfluß
auf unsre Literatur ausüben, wenn wir uns aus der Anschauung einfacher und
bestimmter Gestatte" die Kunst aneignen, überhaupt bestimmte und lebendige Ge¬
stalten zu zeichnen, und diese Kunst, die uns durch die zersetzende Reflexion der
letzten Jahre fast gänzlich verloren gegangen ist, alsdann auf Gegenstände über¬
tragen, die unsrem Denken und Empfinden näher stehen, als das Stillleben ent¬
legener Hinterwälder. Aber wenn wir diesem Genre auch nur' ein vorübergehen¬
des Bürgerrecht einräumen, so ist damit doch schon ein sehr bedeutender Schritt
geschehen, und es sind einzelne Gestatte" und Bilder daraus hervorgegangen,
die das Genre selbst überdauern werden.

Zum Schluß machen wir noch aus Immermanns "Memorabilien" aufmerk¬
sam, die gleichfalls im letzten Jahre seines Lebens erschienen und die leider nur
bis zum Jahre 1813 fortgeführt sind. Es sind die geistreichsten und treffendsten


schen Formeln nur schwach versteckten Selbstregierung des Volkes reflectirt, kann
nicht in den mystischen Formeln so bis zum Fanatismus aufgehen, wie wir es
von dem Hofschulzen hören müssen. Diese innere Wiedergeburt des Mannes giebt
zwar dem Gedicht einen sehr artigen Abschluß, aber sie ist gegen Wahrheit und
Natur.

Es ist nicht zu läugnen, daß dieses an sich schon sehr schone Bild durch
den Contrast eine noch viel hellere Beleuchtung gewonnen hat; es erquickt uns,
wie den Dürstenden in der Wüste eine plötzlich Hervorsprudelude Quelle aus grü¬
ner Oase, wenn wir aus der schrecklichen Wüste der Münchhansenschen Witzeleien
in diesen üppigen, frischen Naturwuchs übergehen. Das Idyll bedarf überhaupt
eines Gegensatzes, um mit der richtige» Empfindung aufgenommen zu werden,
wenn dieser Gegensatz auch nur in dem Bewußtsein des lesenden Publicums liegt.
Auf der andern Seite werden wir aber durch die beständigen Beziehungen zu
der Müuchhausenschen Welt in unsrer Andacht gestört. Das hübsche Mädchen
in dem Hanse des Hofschulzen, an dem wir im Anfang so warmes Interesse nehmen,
verwandelt sich in ein Gespenst, wenn es sich als die Tochter Münchhausen's und
des Fräuleins von Schnickschnackschnurr herausstellt, und wir werden diesen ge¬
spenstischen Eindruck nicht los, anch wenn die Bedenklichkeiten des jungen Gra¬
sen gegen diese unheimliche Verbindung zuletzt beseitigt werden.

Mit diesem Idyll ragt Immermann bereits über die jungdeutsche Periode
heraus und in jene Periode hinein, in welcher man den Skepticismus und die
Blasirtheit des Epigonenthums, durch gewaltsame Rückkehr zur Natur zu über¬
winden suchte. Sein Beispiel hat nach dieser Richtung hin Epoche gemacht. Zwar
war der „Bauernspiegel" von Jeremias Gotthelf schon zwei Jahre früher erschienen
(1836), aber es dauerte lange, ehe er in Deutschland bekannt wurde, und die
Schwarzwälder Dorfgeschichten erschienen erst 18t3. Zwar glauben wir keines¬
wegs, daß mit dieser freiwilligen Rückkehr zur Beschränktheit Alles gethan ist.
Die Dorfgeschichten werden nnr dann einen dauerhaften, segensreichen Einfluß
auf unsre Literatur ausüben, wenn wir uns aus der Anschauung einfacher und
bestimmter Gestatte» die Kunst aneignen, überhaupt bestimmte und lebendige Ge¬
stalten zu zeichnen, und diese Kunst, die uns durch die zersetzende Reflexion der
letzten Jahre fast gänzlich verloren gegangen ist, alsdann auf Gegenstände über¬
tragen, die unsrem Denken und Empfinden näher stehen, als das Stillleben ent¬
legener Hinterwälder. Aber wenn wir diesem Genre auch nur' ein vorübergehen¬
des Bürgerrecht einräumen, so ist damit doch schon ein sehr bedeutender Schritt
geschehen, und es sind einzelne Gestatte» und Bilder daraus hervorgegangen,
die das Genre selbst überdauern werden.

Zum Schluß machen wir noch aus Immermanns „Memorabilien" aufmerk¬
sam, die gleichfalls im letzten Jahre seines Lebens erschienen und die leider nur
bis zum Jahre 1813 fortgeführt sind. Es sind die geistreichsten und treffendsten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/225>, abgerufen am 24.07.2024.