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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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gefühl der äußerlichen Macht zum Uebermaß geführt wird, uur in ihren ober¬
flächlichen Erscheinungen verfolgt, sie wol gar mit historischem Pragmatismus
zersetzt, so kommt ein Rechenexempel des Verstandes, aber nicht eine freie Poesie,
die sich des allgemeinen Gefühls bemÄchtigt, dabei heraus, und die großen ge¬
schichtlichen Gegensätze verkümmern in psychologischer Kleinkrämerei. An diesem
Mangel an Jntensivität in der Leidenschaft gehen alle unsre Hohenstanfenstücke
zu Grunde. Freilich würde ein Dichter, der noch selber in den Gegensätzen be¬
fangen, der uoch selber ein Fanatiker für das eine oder das andere der bei¬
den Principien ist, noch weniger geeignet sei", dem Stoff seine objective Gestalt
zu geben, aber durchgemacht muß er das Gefühl haben, wenn er es durch Dar¬
stellung überwinden will. Unsre skeptische Vermittluugssucht bringt keine histo¬
rische Größe zu Stande.

Noch verwirrter sind die historischen Motive in dem "Trauerspiel in
Tyrol", welches in demselben Jahre, 1828, erschien. Vielleicht angeregt durch
das Beispiel des Teil, hat Immermann eine große Menge localer Schilderungen
zusammengehäuft, tyroler Volkslieder u. s. w., und die verschiedenartigsten Cha¬
raktere in dem Kampf gegen die französische Unterdrückung vereinigt; aber seine
zersetzende Reflexion verdirbt ihm das Spiel. Ganz abgesehen von den theatra¬
lischen Ungeschicklichkeiten, deren dieses Stück seiner historischen Ausbreitung wegen
eine übertriebene Masse enthält, fehlt ihm das Auge für die objectiven Verhält¬
nisse. Er hat über die tiefere Bedeutung des Kampfs zwischen dem gebildeten
Kaiserreiche und der naturwüchsigen Volkskraft vielfach nachgedacht, und verfällt
nun in den Fehler, dem selten einer unsrer modernen historischen Dichter ent¬
geht, dieses Nachdenken aus seiner eigenen Seele in die Seele der handelnden
Person zu verlegen. Er läßt den französischen General über den großen Sinn
des Kampfes reflectiren, wie ein deutscher Philosoph, und er läßt den schlichten
tyroler Bauer mit ähnlichen Reflexionen antworten. Dieser Zersetzungsproceß
hebt nicht nur den gesunden Organismus der Charaktere auf, deren Gegensatz
wenigstens ein sehr poetischer genannt werden muß, wenn wir auch an seiner
dramatischen Berechtigung zweifeln, sondern er verwirrt anch das Gefühl des
Publicums. Das deutsche Volk hat gegen die übermüthigen, frechen französischen
Eroberer ein sehr gesundes und gerechtes Gefühl des Hasses gehegt, und wenn'
das Volk in seinem richtigen Jnstinct sie todtschlug wie tolle Hunde, so war das
ganz in der Ordnung. Wenn uns der Dichter die Eroberer von dieser Seite
gezeigt hätte, ungefähr wie Kleist in seiner "Hermannsschlacht", so konnte er sie
im Einzelnen so liebenswürdig und geistreich schildern, wie er Lnsi hatte, unser
Gefühl hätte er dadurch nicht verwirrt. So aber sehen wir ein verwickeltes Rai-
sonnement auf beiden Seiten, über das wir erst tiefer nachdenken müssen, um zu
einem reifen Urtheile, zu einem klaren und sichern Gefühle zu kommen. Dadurch
schleicht sich ein durchaus nicht beabsichtigter ironischer Zug in die Handlung ein.


gefühl der äußerlichen Macht zum Uebermaß geführt wird, uur in ihren ober¬
flächlichen Erscheinungen verfolgt, sie wol gar mit historischem Pragmatismus
zersetzt, so kommt ein Rechenexempel des Verstandes, aber nicht eine freie Poesie,
die sich des allgemeinen Gefühls bemÄchtigt, dabei heraus, und die großen ge¬
schichtlichen Gegensätze verkümmern in psychologischer Kleinkrämerei. An diesem
Mangel an Jntensivität in der Leidenschaft gehen alle unsre Hohenstanfenstücke
zu Grunde. Freilich würde ein Dichter, der noch selber in den Gegensätzen be¬
fangen, der uoch selber ein Fanatiker für das eine oder das andere der bei¬
den Principien ist, noch weniger geeignet sei», dem Stoff seine objective Gestalt
zu geben, aber durchgemacht muß er das Gefühl haben, wenn er es durch Dar¬
stellung überwinden will. Unsre skeptische Vermittluugssucht bringt keine histo¬
rische Größe zu Stande.

Noch verwirrter sind die historischen Motive in dem „Trauerspiel in
Tyrol", welches in demselben Jahre, 1828, erschien. Vielleicht angeregt durch
das Beispiel des Teil, hat Immermann eine große Menge localer Schilderungen
zusammengehäuft, tyroler Volkslieder u. s. w., und die verschiedenartigsten Cha¬
raktere in dem Kampf gegen die französische Unterdrückung vereinigt; aber seine
zersetzende Reflexion verdirbt ihm das Spiel. Ganz abgesehen von den theatra¬
lischen Ungeschicklichkeiten, deren dieses Stück seiner historischen Ausbreitung wegen
eine übertriebene Masse enthält, fehlt ihm das Auge für die objectiven Verhält¬
nisse. Er hat über die tiefere Bedeutung des Kampfs zwischen dem gebildeten
Kaiserreiche und der naturwüchsigen Volkskraft vielfach nachgedacht, und verfällt
nun in den Fehler, dem selten einer unsrer modernen historischen Dichter ent¬
geht, dieses Nachdenken aus seiner eigenen Seele in die Seele der handelnden
Person zu verlegen. Er läßt den französischen General über den großen Sinn
des Kampfes reflectiren, wie ein deutscher Philosoph, und er läßt den schlichten
tyroler Bauer mit ähnlichen Reflexionen antworten. Dieser Zersetzungsproceß
hebt nicht nur den gesunden Organismus der Charaktere auf, deren Gegensatz
wenigstens ein sehr poetischer genannt werden muß, wenn wir auch an seiner
dramatischen Berechtigung zweifeln, sondern er verwirrt anch das Gefühl des
Publicums. Das deutsche Volk hat gegen die übermüthigen, frechen französischen
Eroberer ein sehr gesundes und gerechtes Gefühl des Hasses gehegt, und wenn'
das Volk in seinem richtigen Jnstinct sie todtschlug wie tolle Hunde, so war das
ganz in der Ordnung. Wenn uns der Dichter die Eroberer von dieser Seite
gezeigt hätte, ungefähr wie Kleist in seiner „Hermannsschlacht", so konnte er sie
im Einzelnen so liebenswürdig und geistreich schildern, wie er Lnsi hatte, unser
Gefühl hätte er dadurch nicht verwirrt. So aber sehen wir ein verwickeltes Rai-
sonnement auf beiden Seiten, über das wir erst tiefer nachdenken müssen, um zu
einem reifen Urtheile, zu einem klaren und sichern Gefühle zu kommen. Dadurch
schleicht sich ein durchaus nicht beabsichtigter ironischer Zug in die Handlung ein.


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[0217] gefühl der äußerlichen Macht zum Uebermaß geführt wird, uur in ihren ober¬ flächlichen Erscheinungen verfolgt, sie wol gar mit historischem Pragmatismus zersetzt, so kommt ein Rechenexempel des Verstandes, aber nicht eine freie Poesie, die sich des allgemeinen Gefühls bemÄchtigt, dabei heraus, und die großen ge¬ schichtlichen Gegensätze verkümmern in psychologischer Kleinkrämerei. An diesem Mangel an Jntensivität in der Leidenschaft gehen alle unsre Hohenstanfenstücke zu Grunde. Freilich würde ein Dichter, der noch selber in den Gegensätzen be¬ fangen, der uoch selber ein Fanatiker für das eine oder das andere der bei¬ den Principien ist, noch weniger geeignet sei», dem Stoff seine objective Gestalt zu geben, aber durchgemacht muß er das Gefühl haben, wenn er es durch Dar¬ stellung überwinden will. Unsre skeptische Vermittluugssucht bringt keine histo¬ rische Größe zu Stande. Noch verwirrter sind die historischen Motive in dem „Trauerspiel in Tyrol", welches in demselben Jahre, 1828, erschien. Vielleicht angeregt durch das Beispiel des Teil, hat Immermann eine große Menge localer Schilderungen zusammengehäuft, tyroler Volkslieder u. s. w., und die verschiedenartigsten Cha¬ raktere in dem Kampf gegen die französische Unterdrückung vereinigt; aber seine zersetzende Reflexion verdirbt ihm das Spiel. Ganz abgesehen von den theatra¬ lischen Ungeschicklichkeiten, deren dieses Stück seiner historischen Ausbreitung wegen eine übertriebene Masse enthält, fehlt ihm das Auge für die objectiven Verhält¬ nisse. Er hat über die tiefere Bedeutung des Kampfs zwischen dem gebildeten Kaiserreiche und der naturwüchsigen Volkskraft vielfach nachgedacht, und verfällt nun in den Fehler, dem selten einer unsrer modernen historischen Dichter ent¬ geht, dieses Nachdenken aus seiner eigenen Seele in die Seele der handelnden Person zu verlegen. Er läßt den französischen General über den großen Sinn des Kampfes reflectiren, wie ein deutscher Philosoph, und er läßt den schlichten tyroler Bauer mit ähnlichen Reflexionen antworten. Dieser Zersetzungsproceß hebt nicht nur den gesunden Organismus der Charaktere auf, deren Gegensatz wenigstens ein sehr poetischer genannt werden muß, wenn wir auch an seiner dramatischen Berechtigung zweifeln, sondern er verwirrt anch das Gefühl des Publicums. Das deutsche Volk hat gegen die übermüthigen, frechen französischen Eroberer ein sehr gesundes und gerechtes Gefühl des Hasses gehegt, und wenn' das Volk in seinem richtigen Jnstinct sie todtschlug wie tolle Hunde, so war das ganz in der Ordnung. Wenn uns der Dichter die Eroberer von dieser Seite gezeigt hätte, ungefähr wie Kleist in seiner „Hermannsschlacht", so konnte er sie im Einzelnen so liebenswürdig und geistreich schildern, wie er Lnsi hatte, unser Gefühl hätte er dadurch nicht verwirrt. So aber sehen wir ein verwickeltes Rai- sonnement auf beiden Seiten, über das wir erst tiefer nachdenken müssen, um zu einem reifen Urtheile, zu einem klaren und sichern Gefühle zu kommen. Dadurch schleicht sich ein durchaus nicht beabsichtigter ironischer Zug in die Handlung ein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/217>, abgerufen am 24.07.2024.