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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Goethe, Schiller, Kleist u. s. w. durch einander dem Publicum vorführte, so
werden wir an diese widersprechenden Sympathien eben so in seinen Stücken er¬
innert. Die gleichzeitigen Schicksalstragöden hatten sich in ihre fixen Ideen so
vertieft, daß sie darin vollständig aufgingen, und daß ihre Verschrobenheit in
gewisser Beziehung wieder den Stempel der Naivetät in sich trug; bei Immer-
mann dagegen fühlt man immer heraus, daß man es mit einem im Grnnde ver¬
ständigen und besonnenen Mann zu thun hat, der über das, was zur Erregung
von Mitleid, Furcht und Entsetzen nöthig ist, vielfach nachgedacht hat und in;n
die Requisite zu solchen Eindrücken mit einer gewissen Anstrengung zusammen¬
sucht. Ju solchen Fällen schützt auch der klarste Verstand und die reifste Bildung
nicht vor der grenzenlosesten Thorheit. Nehmen wir z. B. Cardenio und Ce-
linde, die bekannteste unter jenen romantischen Tragödien, so haben wir darin
eine Sammlung von abgeschmackten Greueln, die weit über Alles hinausgeht, was
Werner oder Hoffmann in ihrer naiven Tollheit erfunden haben. Schon die Wahl
des sujets, das übrigens bereits von Arnim in dem ganz verwilderten und sinn¬
losen Drama: "Halle und Jerusalem", und noch früher von Tieck in seinem
"Liebcstrank" benutzt war, zeigt eine Verwilderung des Geschmacks. Daß durch
einen eingegebenen Trank ein Liebesgefühl für eine bestimmte Person erweckt
wird, mag im Märchen und im romantischen Epos seine Berechtigung haben, im
Drama macht es einen lächerlichen Eindruck, und zwar um so mehr, je weniger
unsre Phantasie im Uebrigen in die angemessene Stimmung versetzt wird. Wenn
nun noch dazu dieser Trank so bereitet wird, daß jene Dame das Herz eines
Liebenden ausschneidet, uuter Zaubersprüchcn verbrennt und die Asche in den
Wein thut, so wird der Ekel so groß, daß an eine Spannung nicht mehr zu
denken ist, und wenn nachher Gerechtigkeit ausgeübt wird, und um diese herbei¬
zuführen, der ermordete Liebhaber aus seinem Grabe heraufsteigen und der Schul¬
digen erscheinen muß, so wird dadurch unser beleidigtes Gemüth ans keine Weise
befriedigt. Aber mit dieser einfachen Greuelgeschichte begnügt sich Immermann
noch nicht. Er mischt eine zweite, eben so greuelvolle Intrigue hinein, die mit
der ersten in keinem innern Zusammenhang steht, und die nur die gleiche Kata¬
strophe, eine zweite Geistererscheinung, herbeiführt. Das Alles ist so absurd und
dabei mit so viel Kälte und Nüchternheit ausgeführt, daß wir zu der Ueberzeugung
kommen, die Tollheiten der Reflexion gehen noch weit über die Tollheiten der
Phantasie hinaus. In den übrigen Stücken haben wir ähnliche Greuelscenen.
So behandelt "das Opfer des Schweigens" die bekannte Geschichte aus dem
Decameron, die Bürger in seiner Ballade, "Lencirdo und Blandine", bearbeitet
hat. In der Katastrophe wird wieder dem Liebhaber das Herz ausgeschnitten
und der Liebenden übergeben. Aber die Sache ist im Drama noch viel schlimmer,
als in der ursprünglichen Novelle. Die Liebesgeschichte des Boccaccio ist sür
herrlich-exaltirte, leidenschaftliche, rücksichtslose Naturen berechnet; Immermann


Goethe, Schiller, Kleist u. s. w. durch einander dem Publicum vorführte, so
werden wir an diese widersprechenden Sympathien eben so in seinen Stücken er¬
innert. Die gleichzeitigen Schicksalstragöden hatten sich in ihre fixen Ideen so
vertieft, daß sie darin vollständig aufgingen, und daß ihre Verschrobenheit in
gewisser Beziehung wieder den Stempel der Naivetät in sich trug; bei Immer-
mann dagegen fühlt man immer heraus, daß man es mit einem im Grnnde ver¬
ständigen und besonnenen Mann zu thun hat, der über das, was zur Erregung
von Mitleid, Furcht und Entsetzen nöthig ist, vielfach nachgedacht hat und in;n
die Requisite zu solchen Eindrücken mit einer gewissen Anstrengung zusammen¬
sucht. Ju solchen Fällen schützt auch der klarste Verstand und die reifste Bildung
nicht vor der grenzenlosesten Thorheit. Nehmen wir z. B. Cardenio und Ce-
linde, die bekannteste unter jenen romantischen Tragödien, so haben wir darin
eine Sammlung von abgeschmackten Greueln, die weit über Alles hinausgeht, was
Werner oder Hoffmann in ihrer naiven Tollheit erfunden haben. Schon die Wahl
des sujets, das übrigens bereits von Arnim in dem ganz verwilderten und sinn¬
losen Drama: „Halle und Jerusalem", und noch früher von Tieck in seinem
„Liebcstrank" benutzt war, zeigt eine Verwilderung des Geschmacks. Daß durch
einen eingegebenen Trank ein Liebesgefühl für eine bestimmte Person erweckt
wird, mag im Märchen und im romantischen Epos seine Berechtigung haben, im
Drama macht es einen lächerlichen Eindruck, und zwar um so mehr, je weniger
unsre Phantasie im Uebrigen in die angemessene Stimmung versetzt wird. Wenn
nun noch dazu dieser Trank so bereitet wird, daß jene Dame das Herz eines
Liebenden ausschneidet, uuter Zaubersprüchcn verbrennt und die Asche in den
Wein thut, so wird der Ekel so groß, daß an eine Spannung nicht mehr zu
denken ist, und wenn nachher Gerechtigkeit ausgeübt wird, und um diese herbei¬
zuführen, der ermordete Liebhaber aus seinem Grabe heraufsteigen und der Schul¬
digen erscheinen muß, so wird dadurch unser beleidigtes Gemüth ans keine Weise
befriedigt. Aber mit dieser einfachen Greuelgeschichte begnügt sich Immermann
noch nicht. Er mischt eine zweite, eben so greuelvolle Intrigue hinein, die mit
der ersten in keinem innern Zusammenhang steht, und die nur die gleiche Kata¬
strophe, eine zweite Geistererscheinung, herbeiführt. Das Alles ist so absurd und
dabei mit so viel Kälte und Nüchternheit ausgeführt, daß wir zu der Ueberzeugung
kommen, die Tollheiten der Reflexion gehen noch weit über die Tollheiten der
Phantasie hinaus. In den übrigen Stücken haben wir ähnliche Greuelscenen.
So behandelt „das Opfer des Schweigens" die bekannte Geschichte aus dem
Decameron, die Bürger in seiner Ballade, „Lencirdo und Blandine", bearbeitet
hat. In der Katastrophe wird wieder dem Liebhaber das Herz ausgeschnitten
und der Liebenden übergeben. Aber die Sache ist im Drama noch viel schlimmer,
als in der ursprünglichen Novelle. Die Liebesgeschichte des Boccaccio ist sür
herrlich-exaltirte, leidenschaftliche, rücksichtslose Naturen berechnet; Immermann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/215>, abgerufen am 24.07.2024.