Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.allgemeine Krankheit ist, hatte auch Michelet ergriffen, und statt, wie es in seinem Es wäre freilich ans der andern Seite zu ungerecht, die Lehrer der Jugend allein allgemeine Krankheit ist, hatte auch Michelet ergriffen, und statt, wie es in seinem Es wäre freilich ans der andern Seite zu ungerecht, die Lehrer der Jugend allein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0204" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94105"/> <p xml:id="ID_561" prev="#ID_560"> allgemeine Krankheit ist, hatte auch Michelet ergriffen, und statt, wie es in seinem<lb/> Interesse und wie es auch seine Pflicht gewesen wäre, die Zukunft seiner Jünger für<lb/> seine Grundsätze zu gewinnen, begnügte er sich mit dem vorübergehenden Beifalle eines<lb/> augenblicklichen ThcatcrcrfolgS, wie der erste beste Schauspieler auch. Die Wirkung<lb/> konnte eben keine nachhaltige sein, und Michelet mag das Bewußtsein mit sich von der<lb/> Kanzel nehmen, daß die meisten seiner eifrigsten Zuhörer später in den Reihen seiner<lb/> Gegner kämpften.</p><lb/> <p xml:id="ID_562" next="#ID_563"> Es wäre freilich ans der andern Seite zu ungerecht, die Lehrer der Jugend allein<lb/> verantwortlich machen zu wollen für die Charakterlosigkeit der Franzosen, mit welcher<lb/> sie jetzt auf so überraschende Weise austreten. Diese Charakterlosigkeit muß im Cha¬<lb/> rakter liegen, wenn auch nicht geradezu im Charakter der Franzosen, doch in jenem<lb/> der genußsüchtigen bessern Gesellschaft. Der Charivari mag spottend und parodirend<lb/> rufen: risn no in'giraeliörg mon trsilsmeiü, oder Salvaudy mag blos einen Witz machen<lb/> wollen, indem er sagt: it n'^ s qu'uno seule liäölitö VN I?igneo> Is üäölitö sux<lb/> traitLmiZiü8,' Beide haben eine bittere Wahrheit, die Lösung jenes widrigen Räthsels<lb/> ausgesprochen, das die gegenwärtigen französischen Verhältnisse bieten. Die Stcllen-<lb/> jägerci ist wahrhaft epidemisch geworden, und wer nicht auf der Börse in der erhöhten<lb/> Geschäftstcmperatur seine Rechnung zu finden hofft, der sucht bei irgend einem Mini¬<lb/> sterium, bei irgend einer Präfectur eine Sinecure. Wer jetzt die Gespräche der soge¬<lb/> nannten gebildeten Gesellschaft mit anhört, der muß glauben, Frankreich beherberge<lb/> eine Nation von Bettlern, welche zu Louis Bonaparte um ein Almosen zu flehen wall-<lb/> fahrtet. „Gregor, wie geht es unsrem Freunde N. N., hat er sein Amt behalten? ist<lb/> er cwancirt?" oder „wie kommt es, daß uoch kein Amt bekommen?" In einer<lb/> Abendgesellschaft, die aus lauter Feinden der gegenwärtigen Regierung zusammengesetzt<lb/> war, hörte ich einen sehr bekannten Politiker sagen: „Nein, die Unverschämtheit unsrer<lb/> Generation geht zu weit, da haben Sie den U, der mit mir die äövKvWev des Pra-,<lb/> sidcntcn ausgesprochen, und nun läßt er sich jetzt schon durch ein einträgliches Amt<lb/> kirre machen, das ist wahrlich schlechter Geschmack. Glauben Sie, ich könnte mir<lb/> meine Opposition nicht auch verzeihen machen? Aber welch anständiger Mensch wird<lb/> solche Eile bezeigen: ,,of ssrait cle wimvsis ßoüt," Glauben Sie aber ja nicht, daß ich<lb/> nach dem Beispiele jenes englischen Touristen, der, als er in seinem Hotel einen rothhaarigen<lb/> Kellner gesehen, in sein Tagebuch schrieb: in der Stadt N. N. haben alle Leute rothe<lb/> Haare, vou, wenn auch zahlreichen, Ausnahmen auf das Ganze schließe. Was ich über<lb/> die Habsucht und Stcllcnjagcrci des modernen Frankreichs sage, das ist die Allgemein¬<lb/> heit, und die Uneigennützigkeit gehört zu den Ausnahmen. Die Geschichte des bona-<lb/> partistischen Eides beweist dies deutlich, und von sämmtlichen Advocaten hat bisher<lb/> blos Einer, Martin von Straßburg, den Eid verweigert. Von allen Beamten der re¬<lb/> gierenden Civilisten kein Einziger. Uano vevism asinus xslimusizuö vioissim, und<lb/> es ist so herkömmlich, auf eine Kleinigkeit, wie , der Eid ist, Nichts zu geben, daß im<lb/> Bewußtsein der französischen Gesellschaft sich blos die Regierung lächerlich macht, welche<lb/> den Eid verlangt. Von Franz Arago, welcher Director des Pariser Observatoriums<lb/> ist, und bekanntlich Mitglied der provisorischen Regierung gewesen, erwarteten seine<lb/> Freunde, daß er Ehrgefühl und Achtung genug für sein graues Haar besitzen werde,<lb/> den vorgeschriebenen Meineid zu verweigern. Fragen Sie nun den Einen oder den<lb/> Andern, was der berühmte Astronom, der allgemein geachtete Mann endlich doch thun</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0204]
allgemeine Krankheit ist, hatte auch Michelet ergriffen, und statt, wie es in seinem
Interesse und wie es auch seine Pflicht gewesen wäre, die Zukunft seiner Jünger für
seine Grundsätze zu gewinnen, begnügte er sich mit dem vorübergehenden Beifalle eines
augenblicklichen ThcatcrcrfolgS, wie der erste beste Schauspieler auch. Die Wirkung
konnte eben keine nachhaltige sein, und Michelet mag das Bewußtsein mit sich von der
Kanzel nehmen, daß die meisten seiner eifrigsten Zuhörer später in den Reihen seiner
Gegner kämpften.
Es wäre freilich ans der andern Seite zu ungerecht, die Lehrer der Jugend allein
verantwortlich machen zu wollen für die Charakterlosigkeit der Franzosen, mit welcher
sie jetzt auf so überraschende Weise austreten. Diese Charakterlosigkeit muß im Cha¬
rakter liegen, wenn auch nicht geradezu im Charakter der Franzosen, doch in jenem
der genußsüchtigen bessern Gesellschaft. Der Charivari mag spottend und parodirend
rufen: risn no in'giraeliörg mon trsilsmeiü, oder Salvaudy mag blos einen Witz machen
wollen, indem er sagt: it n'^ s qu'uno seule liäölitö VN I?igneo> Is üäölitö sux
traitLmiZiü8,' Beide haben eine bittere Wahrheit, die Lösung jenes widrigen Räthsels
ausgesprochen, das die gegenwärtigen französischen Verhältnisse bieten. Die Stcllen-
jägerci ist wahrhaft epidemisch geworden, und wer nicht auf der Börse in der erhöhten
Geschäftstcmperatur seine Rechnung zu finden hofft, der sucht bei irgend einem Mini¬
sterium, bei irgend einer Präfectur eine Sinecure. Wer jetzt die Gespräche der soge¬
nannten gebildeten Gesellschaft mit anhört, der muß glauben, Frankreich beherberge
eine Nation von Bettlern, welche zu Louis Bonaparte um ein Almosen zu flehen wall-
fahrtet. „Gregor, wie geht es unsrem Freunde N. N., hat er sein Amt behalten? ist
er cwancirt?" oder „wie kommt es, daß uoch kein Amt bekommen?" In einer
Abendgesellschaft, die aus lauter Feinden der gegenwärtigen Regierung zusammengesetzt
war, hörte ich einen sehr bekannten Politiker sagen: „Nein, die Unverschämtheit unsrer
Generation geht zu weit, da haben Sie den U, der mit mir die äövKvWev des Pra-,
sidcntcn ausgesprochen, und nun läßt er sich jetzt schon durch ein einträgliches Amt
kirre machen, das ist wahrlich schlechter Geschmack. Glauben Sie, ich könnte mir
meine Opposition nicht auch verzeihen machen? Aber welch anständiger Mensch wird
solche Eile bezeigen: ,,of ssrait cle wimvsis ßoüt," Glauben Sie aber ja nicht, daß ich
nach dem Beispiele jenes englischen Touristen, der, als er in seinem Hotel einen rothhaarigen
Kellner gesehen, in sein Tagebuch schrieb: in der Stadt N. N. haben alle Leute rothe
Haare, vou, wenn auch zahlreichen, Ausnahmen auf das Ganze schließe. Was ich über
die Habsucht und Stcllcnjagcrci des modernen Frankreichs sage, das ist die Allgemein¬
heit, und die Uneigennützigkeit gehört zu den Ausnahmen. Die Geschichte des bona-
partistischen Eides beweist dies deutlich, und von sämmtlichen Advocaten hat bisher
blos Einer, Martin von Straßburg, den Eid verweigert. Von allen Beamten der re¬
gierenden Civilisten kein Einziger. Uano vevism asinus xslimusizuö vioissim, und
es ist so herkömmlich, auf eine Kleinigkeit, wie , der Eid ist, Nichts zu geben, daß im
Bewußtsein der französischen Gesellschaft sich blos die Regierung lächerlich macht, welche
den Eid verlangt. Von Franz Arago, welcher Director des Pariser Observatoriums
ist, und bekanntlich Mitglied der provisorischen Regierung gewesen, erwarteten seine
Freunde, daß er Ehrgefühl und Achtung genug für sein graues Haar besitzen werde,
den vorgeschriebenen Meineid zu verweigern. Fragen Sie nun den Einen oder den
Andern, was der berühmte Astronom, der allgemein geachtete Mann endlich doch thun
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