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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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hatte Stunden lang ans Südwest geweht, und das Wasser-aus dem atlan¬
tischen Ocean durch den Canal in der Nordsee gepeitscht; daraus war der Süd¬
west plötzlich in Nordwest umgeschlagen, nud hatte das Wasser, das so schnell nicht
durch den Canal ablaufen konnte, mit furchtbarer Gewalt gegen die Küste ge¬
schleudert. Halem, ein oldenbnrger Schriftsteller, der uns eine Schilderung jener
Weihnachtsfluth hinterlassen hat, sagt, die See sei mit der Geschwindigkeit des
Wassers in einem Topfe, das zu sieden beginnt, ausgelaufen. Schon um 3 Uhr
in der Nacht zerrissen die Deiche von Butjadingen, und das Wasser stieg inner¬
halb einer Viertelstunde 8 -- 16 Fuß im niedrigen Lande. Das Vieh ertrank in
den Häusern; viele Menschen fanden in den Betten, oder auf Aschen und Schränken,
wohin sie geflüchtet waren, den Tod; viele, die halb nackt auf Böden und Dächer
geklettert waren, kamen durch Zusammensturz der Gebäude um, oder starben vor
Frost und Hunger. In den Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst, also in
einem kleinen Theile des Herzogthums, wurden allein -ISO Häuser zerstört; 2-i71 Men¬
schen und sast doppelt so viel Pferde undHornvieh kamen ums Leben; wie groß
mag erst die Zahl der Opfer in der bntjadinger Marsch gewesen sein! Ist die Deich¬
last in gewöhnlichen Zeiten schon beträchtlich, so steigt sie in solchen Unglücksjahren
ins Unerschwingliche. Darum pflegt auch der Marschbewohner zu sagen, ohne
die Deichlast könne er mit einem silbernen Pfluge pflügen. Den Deich selber
aber nennt er seinen goldenen Ring, um den Werth, den er auf ihn legt, zu
bezeichnen.

Während die Geest einzelne Waldungen besitzt, und reich an schönen Baum¬
partien ist, die dem wellenförmigen Lande zu einiger Zierde gereichen, zeigt sich
die Marsch fast baumlos und flach wie eine Tafel; dennoch geben ihr die weit
zahlreicheren, sehr stattlichen Häusergruppen, die üppigen Fruchtfelder und vor
Allem das reinliche Vieh, das Tag und Nacht bis zum Winter auf der Weide
geht, ein lachendes, wenn auch einförmiges Ansehen. Es ist'eine holländische
Landschaft, ungemein reizend, wenn die Weiden mit frischem Grün bedeckt sind,
aber ermüdend durch beständige Wiederholung. Man denke sich den saftig grünen
Riesenteppich bis zum fernsten Horizont aufgeschlagen, gestickt mit bunten Blumen
und durch blinkende Wassergräben in Hunderte von Feldern getheilt; man denke
sich auf diesen Feldern die stattlichsten Rosse in wilder Freiheit, schwarz und weiß
geflecktes Hornvieh, gegen das Helios seine Rinder tauschen würde; riesige Schafe,
deren Vließ an Weiße dem Schnee nicht nachsteht, und um die Wohnungen noch
anderes Vieh in gleicher Größe und Schönheit; man denke sich diese Thiere, wie sie,
einzeln oder gruppenweise vertheilt, die schöne Trift als Weide-, Tunnel- oder
Ruheplatz benutzen, die Rinder behaglich gelagert oder, wo es die Localität erlaubt,
bis ans Knie im Wasser stehend; die Pferde, von munteren Füllen umschwärmt,
umhergaloppirend und den Rossen Deines Wagens mit lautem Gewieher eiuen
guten Tag zurufend, und an den Deichen hinauf und hinab die schimmernden


hatte Stunden lang ans Südwest geweht, und das Wasser-aus dem atlan¬
tischen Ocean durch den Canal in der Nordsee gepeitscht; daraus war der Süd¬
west plötzlich in Nordwest umgeschlagen, nud hatte das Wasser, das so schnell nicht
durch den Canal ablaufen konnte, mit furchtbarer Gewalt gegen die Küste ge¬
schleudert. Halem, ein oldenbnrger Schriftsteller, der uns eine Schilderung jener
Weihnachtsfluth hinterlassen hat, sagt, die See sei mit der Geschwindigkeit des
Wassers in einem Topfe, das zu sieden beginnt, ausgelaufen. Schon um 3 Uhr
in der Nacht zerrissen die Deiche von Butjadingen, und das Wasser stieg inner¬
halb einer Viertelstunde 8 — 16 Fuß im niedrigen Lande. Das Vieh ertrank in
den Häusern; viele Menschen fanden in den Betten, oder auf Aschen und Schränken,
wohin sie geflüchtet waren, den Tod; viele, die halb nackt auf Böden und Dächer
geklettert waren, kamen durch Zusammensturz der Gebäude um, oder starben vor
Frost und Hunger. In den Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst, also in
einem kleinen Theile des Herzogthums, wurden allein -ISO Häuser zerstört; 2-i71 Men¬
schen und sast doppelt so viel Pferde undHornvieh kamen ums Leben; wie groß
mag erst die Zahl der Opfer in der bntjadinger Marsch gewesen sein! Ist die Deich¬
last in gewöhnlichen Zeiten schon beträchtlich, so steigt sie in solchen Unglücksjahren
ins Unerschwingliche. Darum pflegt auch der Marschbewohner zu sagen, ohne
die Deichlast könne er mit einem silbernen Pfluge pflügen. Den Deich selber
aber nennt er seinen goldenen Ring, um den Werth, den er auf ihn legt, zu
bezeichnen.

Während die Geest einzelne Waldungen besitzt, und reich an schönen Baum¬
partien ist, die dem wellenförmigen Lande zu einiger Zierde gereichen, zeigt sich
die Marsch fast baumlos und flach wie eine Tafel; dennoch geben ihr die weit
zahlreicheren, sehr stattlichen Häusergruppen, die üppigen Fruchtfelder und vor
Allem das reinliche Vieh, das Tag und Nacht bis zum Winter auf der Weide
geht, ein lachendes, wenn auch einförmiges Ansehen. Es ist'eine holländische
Landschaft, ungemein reizend, wenn die Weiden mit frischem Grün bedeckt sind,
aber ermüdend durch beständige Wiederholung. Man denke sich den saftig grünen
Riesenteppich bis zum fernsten Horizont aufgeschlagen, gestickt mit bunten Blumen
und durch blinkende Wassergräben in Hunderte von Feldern getheilt; man denke
sich auf diesen Feldern die stattlichsten Rosse in wilder Freiheit, schwarz und weiß
geflecktes Hornvieh, gegen das Helios seine Rinder tauschen würde; riesige Schafe,
deren Vließ an Weiße dem Schnee nicht nachsteht, und um die Wohnungen noch
anderes Vieh in gleicher Größe und Schönheit; man denke sich diese Thiere, wie sie,
einzeln oder gruppenweise vertheilt, die schöne Trift als Weide-, Tunnel- oder
Ruheplatz benutzen, die Rinder behaglich gelagert oder, wo es die Localität erlaubt,
bis ans Knie im Wasser stehend; die Pferde, von munteren Füllen umschwärmt,
umhergaloppirend und den Rossen Deines Wagens mit lautem Gewieher eiuen
guten Tag zurufend, und an den Deichen hinauf und hinab die schimmernden


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[0191] hatte Stunden lang ans Südwest geweht, und das Wasser-aus dem atlan¬ tischen Ocean durch den Canal in der Nordsee gepeitscht; daraus war der Süd¬ west plötzlich in Nordwest umgeschlagen, nud hatte das Wasser, das so schnell nicht durch den Canal ablaufen konnte, mit furchtbarer Gewalt gegen die Küste ge¬ schleudert. Halem, ein oldenbnrger Schriftsteller, der uns eine Schilderung jener Weihnachtsfluth hinterlassen hat, sagt, die See sei mit der Geschwindigkeit des Wassers in einem Topfe, das zu sieden beginnt, ausgelaufen. Schon um 3 Uhr in der Nacht zerrissen die Deiche von Butjadingen, und das Wasser stieg inner¬ halb einer Viertelstunde 8 — 16 Fuß im niedrigen Lande. Das Vieh ertrank in den Häusern; viele Menschen fanden in den Betten, oder auf Aschen und Schränken, wohin sie geflüchtet waren, den Tod; viele, die halb nackt auf Böden und Dächer geklettert waren, kamen durch Zusammensturz der Gebäude um, oder starben vor Frost und Hunger. In den Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst, also in einem kleinen Theile des Herzogthums, wurden allein -ISO Häuser zerstört; 2-i71 Men¬ schen und sast doppelt so viel Pferde undHornvieh kamen ums Leben; wie groß mag erst die Zahl der Opfer in der bntjadinger Marsch gewesen sein! Ist die Deich¬ last in gewöhnlichen Zeiten schon beträchtlich, so steigt sie in solchen Unglücksjahren ins Unerschwingliche. Darum pflegt auch der Marschbewohner zu sagen, ohne die Deichlast könne er mit einem silbernen Pfluge pflügen. Den Deich selber aber nennt er seinen goldenen Ring, um den Werth, den er auf ihn legt, zu bezeichnen. Während die Geest einzelne Waldungen besitzt, und reich an schönen Baum¬ partien ist, die dem wellenförmigen Lande zu einiger Zierde gereichen, zeigt sich die Marsch fast baumlos und flach wie eine Tafel; dennoch geben ihr die weit zahlreicheren, sehr stattlichen Häusergruppen, die üppigen Fruchtfelder und vor Allem das reinliche Vieh, das Tag und Nacht bis zum Winter auf der Weide geht, ein lachendes, wenn auch einförmiges Ansehen. Es ist'eine holländische Landschaft, ungemein reizend, wenn die Weiden mit frischem Grün bedeckt sind, aber ermüdend durch beständige Wiederholung. Man denke sich den saftig grünen Riesenteppich bis zum fernsten Horizont aufgeschlagen, gestickt mit bunten Blumen und durch blinkende Wassergräben in Hunderte von Feldern getheilt; man denke sich auf diesen Feldern die stattlichsten Rosse in wilder Freiheit, schwarz und weiß geflecktes Hornvieh, gegen das Helios seine Rinder tauschen würde; riesige Schafe, deren Vließ an Weiße dem Schnee nicht nachsteht, und um die Wohnungen noch anderes Vieh in gleicher Größe und Schönheit; man denke sich diese Thiere, wie sie, einzeln oder gruppenweise vertheilt, die schöne Trift als Weide-, Tunnel- oder Ruheplatz benutzen, die Rinder behaglich gelagert oder, wo es die Localität erlaubt, bis ans Knie im Wasser stehend; die Pferde, von munteren Füllen umschwärmt, umhergaloppirend und den Rossen Deines Wagens mit lautem Gewieher eiuen guten Tag zurufend, und an den Deichen hinauf und hinab die schimmernden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/191>, abgerufen am 24.07.2024.