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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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und während jene nicht alle Heilmittel reichen werden, so würden auch diese nicht
verstehen, .streng nach Vorschriften zu leben, selbst wenn diese Vorschriften volle
Nothlosigkeit zu verheißen im Stande wären. Dagegen ist es allerdings die
Pflicht unsrer Staatsmänner, die herrschenden Irrthümer über die Ursachen dieses
Nothstandes zu berichtigen, soweit es in ihren Kräften steht, und die möglichen
Heilmittel dawider anzuwenden. Diese Pflicht ist um so großer, weil das Fort¬
bestehen jener Irrthümer das Uebel der Leidenden keineswegs mildern kann, wol
aber dasselbe in hohem Grade vermehren und dem Volke viele neue und schwere
Wunden schlagen muß, und weil es allerdings Heilmittel giebt, welche zwar nicht
Arlara für jedes Leiden der arbeitenden Klassen sind, wol aber zur Verminderung
vieler Noth beitragen würden.

Wie aber die meisten.dentschen Regierungen diese große Aufgabe verstehen,
beweist am besten die Art und Weise, in welcher das AuswandernugSwesen bis¬
her von den Regierungen behandelt worden ist.

Wenn frühere Gesetzgebungen durch Auszugsstenern das Wegziehen der Be¬
völkerung aus einem Staate zu verhindern beabsichtigten, so war dies eine falsche
Beschränkung der individuellen Freiheit, welche mit Recht in der neuern Zeit
hinweggeräumt worden ist. Die Gesellschaft eines Staatsverbandes hat aller¬
dings Rechte an das Individuum', aber diese'Rechte dürfen diesem letztern nur
in soweit Pflichten aufbürden, als dasselbe Mitglied der Gesellschaft sein und
bleiben will; sie werden zum Uebergriffe, zum Unrecht, wenn sie den Einzel-
menschen an eine bestimmte Gesellschaft und ihre Erdscholle binden wollen. Wenn
aber, im Gegensatze hierzu, in der neusten Zeit viele Regierungen nicht bei der
freien Gestaltung des Wegzuges stehen geblieben sind, sondern das Wegziehen
ihrer Unterthannen mit Wort ja mit der That unterstützen, so sind sie damit
nicht nur in einen eben so großen, sondern in einen größern Fehler verfallen,
als die, welche jeden Abzug hinderten.

Jene älteren Gesetzgebungen zeigten bei ihrem beschränkten Systeme doch
den edlen Grundgedanken, daß sie den Werth der Person erkannten und schätzten.
Sie wollten der Gesammtheit der Gesellschaft den Werth des Individuums er¬
halten, und gingen in dem wohlverstandenen Interesse der Gesammtheit nur zu
weit in der Beschränkung des Individuums. Der Begünstigung der Auswan¬
derung hingegen, welcher in der neusten Zeit viele deutsche RegierNngen huldigen,
liegt ein weit verletzenderes Princip zu Grunde, das der Geringschätzung des
Werthes der einzelnen Person im Staate.

Ist jeder arbeitende Mann, wie oben gesagt, ein werdendes Capital seines
Landes, verbraucht jeder Arbeiter weniger von-dem Reichthume der Gesellschaft,
als er zu demselben mit seiner Arbeit beiträgt, so ist der Wegzug jedes Unter¬
thanen, mit Ausnahme des Bettlers und Vagabunden, ein Verlust für den Staat.
Und betrachtet man die langen Züge der Auswanderer, fragt man, ob im Durch-


und während jene nicht alle Heilmittel reichen werden, so würden auch diese nicht
verstehen, .streng nach Vorschriften zu leben, selbst wenn diese Vorschriften volle
Nothlosigkeit zu verheißen im Stande wären. Dagegen ist es allerdings die
Pflicht unsrer Staatsmänner, die herrschenden Irrthümer über die Ursachen dieses
Nothstandes zu berichtigen, soweit es in ihren Kräften steht, und die möglichen
Heilmittel dawider anzuwenden. Diese Pflicht ist um so großer, weil das Fort¬
bestehen jener Irrthümer das Uebel der Leidenden keineswegs mildern kann, wol
aber dasselbe in hohem Grade vermehren und dem Volke viele neue und schwere
Wunden schlagen muß, und weil es allerdings Heilmittel giebt, welche zwar nicht
Arlara für jedes Leiden der arbeitenden Klassen sind, wol aber zur Verminderung
vieler Noth beitragen würden.

Wie aber die meisten.dentschen Regierungen diese große Aufgabe verstehen,
beweist am besten die Art und Weise, in welcher das AuswandernugSwesen bis¬
her von den Regierungen behandelt worden ist.

Wenn frühere Gesetzgebungen durch Auszugsstenern das Wegziehen der Be¬
völkerung aus einem Staate zu verhindern beabsichtigten, so war dies eine falsche
Beschränkung der individuellen Freiheit, welche mit Recht in der neuern Zeit
hinweggeräumt worden ist. Die Gesellschaft eines Staatsverbandes hat aller¬
dings Rechte an das Individuum', aber diese'Rechte dürfen diesem letztern nur
in soweit Pflichten aufbürden, als dasselbe Mitglied der Gesellschaft sein und
bleiben will; sie werden zum Uebergriffe, zum Unrecht, wenn sie den Einzel-
menschen an eine bestimmte Gesellschaft und ihre Erdscholle binden wollen. Wenn
aber, im Gegensatze hierzu, in der neusten Zeit viele Regierungen nicht bei der
freien Gestaltung des Wegzuges stehen geblieben sind, sondern das Wegziehen
ihrer Unterthannen mit Wort ja mit der That unterstützen, so sind sie damit
nicht nur in einen eben so großen, sondern in einen größern Fehler verfallen,
als die, welche jeden Abzug hinderten.

Jene älteren Gesetzgebungen zeigten bei ihrem beschränkten Systeme doch
den edlen Grundgedanken, daß sie den Werth der Person erkannten und schätzten.
Sie wollten der Gesammtheit der Gesellschaft den Werth des Individuums er¬
halten, und gingen in dem wohlverstandenen Interesse der Gesammtheit nur zu
weit in der Beschränkung des Individuums. Der Begünstigung der Auswan¬
derung hingegen, welcher in der neusten Zeit viele deutsche RegierNngen huldigen,
liegt ein weit verletzenderes Princip zu Grunde, das der Geringschätzung des
Werthes der einzelnen Person im Staate.

Ist jeder arbeitende Mann, wie oben gesagt, ein werdendes Capital seines
Landes, verbraucht jeder Arbeiter weniger von-dem Reichthume der Gesellschaft,
als er zu demselben mit seiner Arbeit beiträgt, so ist der Wegzug jedes Unter¬
thanen, mit Ausnahme des Bettlers und Vagabunden, ein Verlust für den Staat.
Und betrachtet man die langen Züge der Auswanderer, fragt man, ob im Durch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/148>, abgerufen am 04.07.2024.