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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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war die Hilft von sehr Vielen nöthig, und schon die Organisation dieser Vor¬
arbeiten war so merkwürdig und interessant, und so charakteristisch für das schone
Leben in der deutschen Wissenschaft, daß sie des Erzählens werth ist. Die Brüder
Grimm schrieben durch ganz Deutschland an ältere und jüngere Männer und
forderten sie auf, einzelne Schriftsteller für das Wörterbuch durchzulesen. Von
allen Seiten antwortete bereitwilliger Fleiß, und jetzt nach Verlauf verhängnißvoller
Jahre werden die Deutschen mit Verwunderung sehen, daß Männer aus den ver¬
schiedensten politischen und gesellschaftlichen Lagern, Welsen und Ghibellinen, Kon¬
servative und Liberale, Wolf und Lamm, einträchtig an dem großen nationalen
Unternehmen mitgearbeitet haben. Die Thätigkeit der zahlreichen Hilfsarbeiter
wurde methodisch organisirt. Jeder erhielt seine genaue Instruction. Auf Zettel
von vorgeschriebener Höhe und Breite sollte er jedes Wort aufschreiben, welches
ihm bei eiuer langsamen und sorgfältigen Lecture des Schriftstellers' aus irgend
einem Grunde bemerkenswerth schiene, nicht nnr beim Gebrauche in-auffälliger
und ungewöhnlicher Bedeutung, sondern auch sonsh wenn die Anwendung desselben
irgendwie charakteristisch wäre, oder die Stelle, an welcher das Wort vorkam,
sich leicht verständlich aus dem Zusammenhange der Rede herauslösen ließe. In
allen solchen Fällen sollte das betreffende Wort und darunter die Stelle, in welcher
es vorkam/ auf dem Zettel aufgeschrieben werden. Es wurde mit deutschem Fleiß
ausgeschrieben. Nach einiger Zeit kamen von allen Seiten Pakete-kostbarer
Zettel an, alle von gleicher Höhe und Breite, jeder mit einem merkwürdigen
Citat beschrieben; die Pakete erschienen in alten Cigarrenkisten, in Schachteln,
Koffern und Neisemänteln aller Art, und wie eine Fluth schwoll das Material
an, so daß auch einem sehr unternehmenden 'Gelehrten vor der Bewältigung
dieser Auszüge hätte Angst werden können. . Es kam zunächst darauf an, in
diese Masse von Zetteln Ordnung zu bringen. Wie groß ihre Anzahl war, ist leider
nicht festgestellt worden, aber über eine Million mögen es wol gewesen sein, denn
zwei Männer hatten sechs Monate hindurch täglich von früh bis Abend zu thun,
dieselben nach dem Alphabet,,zu verzetteln und in zwei ungeheuren Wandschränken
geordnet niederzulegen.

Die Schriftsteller, welche für das Wörterbuch gelesen und ausgezogen wurden,
umfaßten die Periode unsrer Entwickelung von Luther bis nach Goethe. Nach
Goethe und Schiller ist noch Tieck, die Bettine, auch Auerbach's Dorfgeschichten
und wol noch Anderes benutzt, so daß auch die Veränderungen, welche die Sprache
in der allerneuesten Zeit erfahren, nicht unberücksichtigt geblieben sind. Am wich¬
tigsten waren natürlich diejenigen Schriftsteller, deren schöpferische Kraft auch die
Sprache gewaltig fortgebildet hat, zumal wenn in ihnen das unmittelbare Gefühl
für das Schone und der Sprache Natürliche lebendig und wirksam war. Denn
nicht alle bedeutenden Schriftsteller eines Volkes haben einen gleichen Theil an
der schöpferischen Sprachkraft, welche in einer Nation fortlebt, so, lange diese selbst


war die Hilft von sehr Vielen nöthig, und schon die Organisation dieser Vor¬
arbeiten war so merkwürdig und interessant, und so charakteristisch für das schone
Leben in der deutschen Wissenschaft, daß sie des Erzählens werth ist. Die Brüder
Grimm schrieben durch ganz Deutschland an ältere und jüngere Männer und
forderten sie auf, einzelne Schriftsteller für das Wörterbuch durchzulesen. Von
allen Seiten antwortete bereitwilliger Fleiß, und jetzt nach Verlauf verhängnißvoller
Jahre werden die Deutschen mit Verwunderung sehen, daß Männer aus den ver¬
schiedensten politischen und gesellschaftlichen Lagern, Welsen und Ghibellinen, Kon¬
servative und Liberale, Wolf und Lamm, einträchtig an dem großen nationalen
Unternehmen mitgearbeitet haben. Die Thätigkeit der zahlreichen Hilfsarbeiter
wurde methodisch organisirt. Jeder erhielt seine genaue Instruction. Auf Zettel
von vorgeschriebener Höhe und Breite sollte er jedes Wort aufschreiben, welches
ihm bei eiuer langsamen und sorgfältigen Lecture des Schriftstellers' aus irgend
einem Grunde bemerkenswerth schiene, nicht nnr beim Gebrauche in-auffälliger
und ungewöhnlicher Bedeutung, sondern auch sonsh wenn die Anwendung desselben
irgendwie charakteristisch wäre, oder die Stelle, an welcher das Wort vorkam,
sich leicht verständlich aus dem Zusammenhange der Rede herauslösen ließe. In
allen solchen Fällen sollte das betreffende Wort und darunter die Stelle, in welcher
es vorkam/ auf dem Zettel aufgeschrieben werden. Es wurde mit deutschem Fleiß
ausgeschrieben. Nach einiger Zeit kamen von allen Seiten Pakete-kostbarer
Zettel an, alle von gleicher Höhe und Breite, jeder mit einem merkwürdigen
Citat beschrieben; die Pakete erschienen in alten Cigarrenkisten, in Schachteln,
Koffern und Neisemänteln aller Art, und wie eine Fluth schwoll das Material
an, so daß auch einem sehr unternehmenden 'Gelehrten vor der Bewältigung
dieser Auszüge hätte Angst werden können. . Es kam zunächst darauf an, in
diese Masse von Zetteln Ordnung zu bringen. Wie groß ihre Anzahl war, ist leider
nicht festgestellt worden, aber über eine Million mögen es wol gewesen sein, denn
zwei Männer hatten sechs Monate hindurch täglich von früh bis Abend zu thun,
dieselben nach dem Alphabet,,zu verzetteln und in zwei ungeheuren Wandschränken
geordnet niederzulegen.

Die Schriftsteller, welche für das Wörterbuch gelesen und ausgezogen wurden,
umfaßten die Periode unsrer Entwickelung von Luther bis nach Goethe. Nach
Goethe und Schiller ist noch Tieck, die Bettine, auch Auerbach's Dorfgeschichten
und wol noch Anderes benutzt, so daß auch die Veränderungen, welche die Sprache
in der allerneuesten Zeit erfahren, nicht unberücksichtigt geblieben sind. Am wich¬
tigsten waren natürlich diejenigen Schriftsteller, deren schöpferische Kraft auch die
Sprache gewaltig fortgebildet hat, zumal wenn in ihnen das unmittelbare Gefühl
für das Schone und der Sprache Natürliche lebendig und wirksam war. Denn
nicht alle bedeutenden Schriftsteller eines Volkes haben einen gleichen Theil an
der schöpferischen Sprachkraft, welche in einer Nation fortlebt, so, lange diese selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/12>, abgerufen am 24.07.2024.