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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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zu stellen, was, wie man heute sieht, nicht gelingen mochte. Seitdem schwebt die
türkische Politik, wie der heilige Stein in der Kaaba zu Mekka, zwischen Himmel
und Erden, und wird bald von der englischen und französischen, bald von der
russischen Diplomatie wie ein Ball hin und her geworfen, ohne jemals zu sicherer
Ruhe gelangen können. Diese Politik ist Alles, nur. nicht türkisch; denn daß ein
Staat, dessen Existenz einerseits von dem passiven Zuwarten des überwiegenden
Theils seiner Bevölkerung, andererseits aber von dem gegenseitigen Hasse und
Neide der europäischen Diplomatie abhängt, keine eigene Politik, weil keine Un¬
abhängigkeit, habe, ist ein politisches Axiom, das keines Beweises bedarf.

Ob französischer oder englischer Einfluß -- einen östreichischen oder deutschen
giebt es nicht -- in Stambul vorherrscht, ist eine theoretische Frage, welche nur
die diplomatischen, nicht aber die inneren Verhältnisse der Türkei berührt; anders
die Geltendmachung der russische" Diplomatie, weil hier die nationalen und re¬
ligiösen Grundlagen des Staates berührt werden. Da ich mich hierüber schon
früher*) ausgesprochen habe, scheint es mir überflüssig, länger bei dieser Frage
zu verweilen, und ich gehe gleich auf das Thatsächliche über.

Seit der Mitte des vorigen Jahres ist in allen Verhältnissen des Türken¬
reichs eine zwar nur wenig scheinbare, aber desto mächtigere Veränderung einge¬
treten, deren Tragweite zu ermessen jetzt ikanm noch möglich erscheint. Diese
Veränderung wurde durch die Annäherung der alttürkischen Partei an die griechisch¬
russische Partei bedingt. Wie diese Annäherung vorbereitet nud eingeleitet wurde,
ist ein noch ungelöstes Räthsel; außer Zweifel steht aber die Thatsache, daß sich
diese zwei Todfeinde die Hand zum Bunde gereicht haben. Daß es die griechisch-
rnssische Partei gern that, ist begreiflich, denn sie weiß ganz wohl, daß die ge¬
stimmte Naja an ihre Selbstbefreiung denkt, daß sie aber, ihrer Kraft mißtrauend,
mit der Ausführung ihrer Pläne so lange zögert, als die türkische Herrschaft "ur
irgend wie zu ertragen ist; jene Partei hat also ein ganz wohlverstandenes In¬
teresse, die Türkenhcrrschaft unerträglich zu machen. Aber ganz unbegreiflich ist
die Selbstverblendung der Alttürken, welche ja sonst die "Moskowi" über Alles
haßten und fürchteten, mit den Gegnern sich zu iliren -- höchstens um die re¬
formistische Partei vom Staatsruder zu verdrängen; denn der täglich sich ver¬
feinernde moderne Byzantinismus giebt ihnen wahrlich wenig Hoffnung, die
Position umzukehren, und die Russen zum Werkzeuge des orthodoxen Türkenthums
zu machen.

Auf diese Alliance folgte eine seit Jahren nicht dagewesene Bewegung Ufld
Regsamkeit in allen politischen Kreisen der Moslims: ein Jntriguiren, Hetzen,
Allarmiren, würdig der schönsten Zeiten der occidentalischen Diplomatie. Der
arme Sultan, dessen Herz bei weitem seinen Kopf übertrifft, war ganz verloren;



") Grenzboten Heft 18, -19, 20.

zu stellen, was, wie man heute sieht, nicht gelingen mochte. Seitdem schwebt die
türkische Politik, wie der heilige Stein in der Kaaba zu Mekka, zwischen Himmel
und Erden, und wird bald von der englischen und französischen, bald von der
russischen Diplomatie wie ein Ball hin und her geworfen, ohne jemals zu sicherer
Ruhe gelangen können. Diese Politik ist Alles, nur. nicht türkisch; denn daß ein
Staat, dessen Existenz einerseits von dem passiven Zuwarten des überwiegenden
Theils seiner Bevölkerung, andererseits aber von dem gegenseitigen Hasse und
Neide der europäischen Diplomatie abhängt, keine eigene Politik, weil keine Un¬
abhängigkeit, habe, ist ein politisches Axiom, das keines Beweises bedarf.

Ob französischer oder englischer Einfluß — einen östreichischen oder deutschen
giebt es nicht — in Stambul vorherrscht, ist eine theoretische Frage, welche nur
die diplomatischen, nicht aber die inneren Verhältnisse der Türkei berührt; anders
die Geltendmachung der russische» Diplomatie, weil hier die nationalen und re¬
ligiösen Grundlagen des Staates berührt werden. Da ich mich hierüber schon
früher*) ausgesprochen habe, scheint es mir überflüssig, länger bei dieser Frage
zu verweilen, und ich gehe gleich auf das Thatsächliche über.

Seit der Mitte des vorigen Jahres ist in allen Verhältnissen des Türken¬
reichs eine zwar nur wenig scheinbare, aber desto mächtigere Veränderung einge¬
treten, deren Tragweite zu ermessen jetzt ikanm noch möglich erscheint. Diese
Veränderung wurde durch die Annäherung der alttürkischen Partei an die griechisch¬
russische Partei bedingt. Wie diese Annäherung vorbereitet nud eingeleitet wurde,
ist ein noch ungelöstes Räthsel; außer Zweifel steht aber die Thatsache, daß sich
diese zwei Todfeinde die Hand zum Bunde gereicht haben. Daß es die griechisch-
rnssische Partei gern that, ist begreiflich, denn sie weiß ganz wohl, daß die ge¬
stimmte Naja an ihre Selbstbefreiung denkt, daß sie aber, ihrer Kraft mißtrauend,
mit der Ausführung ihrer Pläne so lange zögert, als die türkische Herrschaft »ur
irgend wie zu ertragen ist; jene Partei hat also ein ganz wohlverstandenes In¬
teresse, die Türkenhcrrschaft unerträglich zu machen. Aber ganz unbegreiflich ist
die Selbstverblendung der Alttürken, welche ja sonst die „Moskowi" über Alles
haßten und fürchteten, mit den Gegnern sich zu iliren — höchstens um die re¬
formistische Partei vom Staatsruder zu verdrängen; denn der täglich sich ver¬
feinernde moderne Byzantinismus giebt ihnen wahrlich wenig Hoffnung, die
Position umzukehren, und die Russen zum Werkzeuge des orthodoxen Türkenthums
zu machen.

Auf diese Alliance folgte eine seit Jahren nicht dagewesene Bewegung Ufld
Regsamkeit in allen politischen Kreisen der Moslims: ein Jntriguiren, Hetzen,
Allarmiren, würdig der schönsten Zeiten der occidentalischen Diplomatie. Der
arme Sultan, dessen Herz bei weitem seinen Kopf übertrifft, war ganz verloren;



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[0108] zu stellen, was, wie man heute sieht, nicht gelingen mochte. Seitdem schwebt die türkische Politik, wie der heilige Stein in der Kaaba zu Mekka, zwischen Himmel und Erden, und wird bald von der englischen und französischen, bald von der russischen Diplomatie wie ein Ball hin und her geworfen, ohne jemals zu sicherer Ruhe gelangen können. Diese Politik ist Alles, nur. nicht türkisch; denn daß ein Staat, dessen Existenz einerseits von dem passiven Zuwarten des überwiegenden Theils seiner Bevölkerung, andererseits aber von dem gegenseitigen Hasse und Neide der europäischen Diplomatie abhängt, keine eigene Politik, weil keine Un¬ abhängigkeit, habe, ist ein politisches Axiom, das keines Beweises bedarf. Ob französischer oder englischer Einfluß — einen östreichischen oder deutschen giebt es nicht — in Stambul vorherrscht, ist eine theoretische Frage, welche nur die diplomatischen, nicht aber die inneren Verhältnisse der Türkei berührt; anders die Geltendmachung der russische» Diplomatie, weil hier die nationalen und re¬ ligiösen Grundlagen des Staates berührt werden. Da ich mich hierüber schon früher*) ausgesprochen habe, scheint es mir überflüssig, länger bei dieser Frage zu verweilen, und ich gehe gleich auf das Thatsächliche über. Seit der Mitte des vorigen Jahres ist in allen Verhältnissen des Türken¬ reichs eine zwar nur wenig scheinbare, aber desto mächtigere Veränderung einge¬ treten, deren Tragweite zu ermessen jetzt ikanm noch möglich erscheint. Diese Veränderung wurde durch die Annäherung der alttürkischen Partei an die griechisch¬ russische Partei bedingt. Wie diese Annäherung vorbereitet nud eingeleitet wurde, ist ein noch ungelöstes Räthsel; außer Zweifel steht aber die Thatsache, daß sich diese zwei Todfeinde die Hand zum Bunde gereicht haben. Daß es die griechisch- rnssische Partei gern that, ist begreiflich, denn sie weiß ganz wohl, daß die ge¬ stimmte Naja an ihre Selbstbefreiung denkt, daß sie aber, ihrer Kraft mißtrauend, mit der Ausführung ihrer Pläne so lange zögert, als die türkische Herrschaft »ur irgend wie zu ertragen ist; jene Partei hat also ein ganz wohlverstandenes In¬ teresse, die Türkenhcrrschaft unerträglich zu machen. Aber ganz unbegreiflich ist die Selbstverblendung der Alttürken, welche ja sonst die „Moskowi" über Alles haßten und fürchteten, mit den Gegnern sich zu iliren — höchstens um die re¬ formistische Partei vom Staatsruder zu verdrängen; denn der täglich sich ver¬ feinernde moderne Byzantinismus giebt ihnen wahrlich wenig Hoffnung, die Position umzukehren, und die Russen zum Werkzeuge des orthodoxen Türkenthums zu machen. Auf diese Alliance folgte eine seit Jahren nicht dagewesene Bewegung Ufld Regsamkeit in allen politischen Kreisen der Moslims: ein Jntriguiren, Hetzen, Allarmiren, würdig der schönsten Zeiten der occidentalischen Diplomatie. Der arme Sultan, dessen Herz bei weitem seinen Kopf übertrifft, war ganz verloren; ") Grenzboten Heft 18, -19, 20.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/108>, abgerufen am 25.07.2024.