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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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stellen die.Urwähler vor, und das Publicum urtheilt erst im zweiten Grade; nur
Franz Liszt hat die Elite der Künstlerwelt zu solchem Enthusiasmus zu begeistern
gewußt, wie dieses junge Mädchen. Da ist auch jeder Zoll eine Künstlerin, und
selbst die abgeschmackten Fingerfertigkeiten der modernen Elavicrcompositionen er¬
halten unter ihrem Spiele einen gewissen Kunstwerth, den man sonst vergebens
an ihnen suchte. ' Sie weiß die Vorzüge der Composition, die sie vorträgt, so
geschickt, mit so viel Takt und Geschmack hervorzuheben, daß selbst das minder
Bedeutende bedeutend wird, und weil sie alle Schwierigkeiten der Technik voll¬
kommen überwunden hat, hat ihr Vortrag auch solcher Knnstspielereien etwas
Anmuthiges, Leichtes, Liebenswürdiges, das die Werthlosigkeit des Vorge¬
tragenen ganz vergessen macht. Man läßt sich diese herkömmlichen Wunder ge¬
fallen, weil man es der Künstlerin anhört, daß sie selbst nur wenig Gewicht darauf
legt, und daß diese Fertigkeit eben nnr Eine Seite ihrer umfassenden Talente sei.
Sie malt, das heißt, sie giebt den Sinn und Geist der vorgetragenen Kunst¬
werke wieder, wie er sich in dem ihren abgespiegelt, sie malt ähnlich, und
bleibt doch eigenthümlich. Sie mag nun eine Fuge von Bach, eine Sonate von
Mozart, ein Concert von Beethoven, eine Elegie von Chopin, ein Lied von
Schubert, eine Träumerei von Mendelssohn oder eine stürmische Phantasie von Liszt
spielen, sie wird ganz von ihrem Gegenstande erfaßt und erfaßt diesen ganz.
Sie bleibt dem Charakter der vorgetragenen Worte tren, ihre Stimmung wechselt
mit der Stimmung des Meisters, sie vergißt keine Nuance, keine Inten¬
tion, und doch weiß sie dem Zuhörer mit der Unabweisbarkeit der bewußten
Talente ihre Eigenthümlichkeiten der Auffassung und der Anschauung aufzudringen.
Bei der Jugend der Künstlerin versteht sich von selbst, daß sie, wie das wahre
Genie, Vieles erräth, ehe sie es verstanden, und bei der Vollendung und
homerischen Ausbildung ihres Spieles ist bei ihr ein Fortschritt nur durch das.
Leben denkbar. Was zu lernen war, das hat sie gelernt, und was zu errathen
ist, das erräth sie -- ihr Talent kann also nur durch die Intensität des Lebens
gewinnen und durch die neuen Anschauungen, Leiden und Freuden, Bewegungen
und Gefühle, die erst der Erfahrung ihrer spätern Jahre vorbehalten sind,
wachsen. Daß sie es mit ihrer Kunst ernst meine, dafür bürgt nicht blos das,
was sie bereits leistet, sondern ihr unermüdlicher Eifer, mit Allem Bekanntschaft
zu machen, was in der musikalischen Literatur erscheint, und die Bescheidenheit und
jener gänzliche Mangel an Charlatanerie und überschätzender Eitelkeit, die man¬
chen tüchtigen Künstler unleidlich machen. Diese junge Dame ist eine Be¬
geisterte, und man darf nnr die Veränderung in ihren Zügen ansehen, wenn sie
am Claviere sitzt, um überzeugt zu sein, daß man eine Auserwählte vor sich sehe.
Das kindliche liebenswürdige Gesicht strahlt in imponirender Schönheit und die
Angen glühen von jenem heiligen Feuer der Begeisterung, das uur dem wahren
Jünger der Kunst innewohnt. Ihre künstlerische Naivheit äußert sich in jedem


10*

stellen die.Urwähler vor, und das Publicum urtheilt erst im zweiten Grade; nur
Franz Liszt hat die Elite der Künstlerwelt zu solchem Enthusiasmus zu begeistern
gewußt, wie dieses junge Mädchen. Da ist auch jeder Zoll eine Künstlerin, und
selbst die abgeschmackten Fingerfertigkeiten der modernen Elavicrcompositionen er¬
halten unter ihrem Spiele einen gewissen Kunstwerth, den man sonst vergebens
an ihnen suchte. ' Sie weiß die Vorzüge der Composition, die sie vorträgt, so
geschickt, mit so viel Takt und Geschmack hervorzuheben, daß selbst das minder
Bedeutende bedeutend wird, und weil sie alle Schwierigkeiten der Technik voll¬
kommen überwunden hat, hat ihr Vortrag auch solcher Knnstspielereien etwas
Anmuthiges, Leichtes, Liebenswürdiges, das die Werthlosigkeit des Vorge¬
tragenen ganz vergessen macht. Man läßt sich diese herkömmlichen Wunder ge¬
fallen, weil man es der Künstlerin anhört, daß sie selbst nur wenig Gewicht darauf
legt, und daß diese Fertigkeit eben nnr Eine Seite ihrer umfassenden Talente sei.
Sie malt, das heißt, sie giebt den Sinn und Geist der vorgetragenen Kunst¬
werke wieder, wie er sich in dem ihren abgespiegelt, sie malt ähnlich, und
bleibt doch eigenthümlich. Sie mag nun eine Fuge von Bach, eine Sonate von
Mozart, ein Concert von Beethoven, eine Elegie von Chopin, ein Lied von
Schubert, eine Träumerei von Mendelssohn oder eine stürmische Phantasie von Liszt
spielen, sie wird ganz von ihrem Gegenstande erfaßt und erfaßt diesen ganz.
Sie bleibt dem Charakter der vorgetragenen Worte tren, ihre Stimmung wechselt
mit der Stimmung des Meisters, sie vergißt keine Nuance, keine Inten¬
tion, und doch weiß sie dem Zuhörer mit der Unabweisbarkeit der bewußten
Talente ihre Eigenthümlichkeiten der Auffassung und der Anschauung aufzudringen.
Bei der Jugend der Künstlerin versteht sich von selbst, daß sie, wie das wahre
Genie, Vieles erräth, ehe sie es verstanden, und bei der Vollendung und
homerischen Ausbildung ihres Spieles ist bei ihr ein Fortschritt nur durch das.
Leben denkbar. Was zu lernen war, das hat sie gelernt, und was zu errathen
ist, das erräth sie — ihr Talent kann also nur durch die Intensität des Lebens
gewinnen und durch die neuen Anschauungen, Leiden und Freuden, Bewegungen
und Gefühle, die erst der Erfahrung ihrer spätern Jahre vorbehalten sind,
wachsen. Daß sie es mit ihrer Kunst ernst meine, dafür bürgt nicht blos das,
was sie bereits leistet, sondern ihr unermüdlicher Eifer, mit Allem Bekanntschaft
zu machen, was in der musikalischen Literatur erscheint, und die Bescheidenheit und
jener gänzliche Mangel an Charlatanerie und überschätzender Eitelkeit, die man¬
chen tüchtigen Künstler unleidlich machen. Diese junge Dame ist eine Be¬
geisterte, und man darf nnr die Veränderung in ihren Zügen ansehen, wenn sie
am Claviere sitzt, um überzeugt zu sein, daß man eine Auserwählte vor sich sehe.
Das kindliche liebenswürdige Gesicht strahlt in imponirender Schönheit und die
Angen glühen von jenem heiligen Feuer der Begeisterung, das uur dem wahren
Jünger der Kunst innewohnt. Ihre künstlerische Naivheit äußert sich in jedem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/85>, abgerufen am 22.07.2024.