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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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reszahl 1423 trug, und vom Chronisten mitgetheilt wird. Im Jahre 1438 kam
wieder ein neuer Haufe durch Böhmen, Oestreich und Bayern, diesmal gar unter einem
kleinen König Ziudelo; auch sie behaupteten aus Aegypten zu sein, und erklärten
sieben Jahr auf Befehl der Gottheit wandern zu müssen, weil ihre Vorfahren
der Mutter Gottes und dem Jesuskinde auf ihrer Flucht nach Aegypten die Gast¬
freundschaft verweigert hätten.

Diese und andere Hansen verbreiteten sich im 13. und 16. Jahrhundert
über ganz Europa. Es gelang ihnen aber trotz dein eitlen Aufputz und ihre"
schlauen Lügen nnr an sehr wenig Orten, die Menschen zu täuschen. Sie er¬
wiesen sich in Kurzem überall als arge Heiden, Zauberer, Wahrsager und höchst
unverschämte Diebe. Sie selbst zersplitterten sich auf der weiten Fahrt in kleinere
. Banden; ihre Führer, die sie, um sich ein Ansehen zu geben, mit allen Fendal-
titeln schmückten, gingen ihnen verloren, sie selbst wurden durch das Wander¬
leben und die Verfolgungen der angesessenen Leute vielfach decimirt.

Unter ihren dürftigen Traditionen über ihre früheren Schicksale mag sich
einiges Geschichtliche erhalten haben, es ist leider schwer herauszufinden. Merk¬
würdig sind bei diesem Eindringen in Europa aber noch mehrere andere Umstände.
Zuerst die schlaue Weise, in welcher sie sich als büßende Pilger dem Wohlwollen der
Christenheit zu empfehlen wissen. Offenbar sind die angegebenen Motive ihrer
Fahrten zum größten Theil mit Frechheit erlogen, aber diese Lügen zeigen eine
so genane Bekanntschaft mit den Eigenthümlichkeiten und Schwächen des christ¬
lichen Abendlandes, daß man schon daraus allein schließen darf, sie seien seit
langer Zeit mit abendländischen Wesen bekannt gewesen. Ferner ist auffallend,
daß sie von Anfang an sich mit Consequenz Kleinägypter nennen. Es findet
sich diese Bezeichnung auch auf Grabsteinen ihrer Führer"), welche sie im 15.
Jahrhundert noch in christlicher Weise aufzurichten für vortheilhaft gehalten haben
müssen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie diese Bezeichnung ihrer Heimath nur
einem geographischen Irrthum der christlichen Gelehrten abgelernt haben, sondern
es ist vielmehr wahrscheinlich, daß uuter diesem Namen in den Ländern um das
schwarze Meer und den mittelländischen Archipel Kleinasien und Syrien verstanden
wurde, welches seit dem Chalifat der Fatimiden in Abhängigkeit von Aegypten
gedacht wurde. Daß Kleinägypteu eine orientalische Länderbezeichnung war, ist auch
aus der Kriegserklärung Achmet IV. an Johann Kasimir von Polen zu ersehen,
in welcher er sich König des großen und kleinen Aegyptens nennt. Die Ansicht,
daß die Zigeuner in Kleinasien gesessen und von dort aus ihre Blicke auf Europa
gerichtet haben, gewinnt noch durch eiuen andern Umstand Wahrscheinlichkeit.
In allen Ländern Europa's fehlen den Zigeunern ihre alten indischen Zahlwörter
für die 7, 8, und 9, und dafür haben sie die griechischen Bezeichnungen ange-

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*) Kanales Susvivi, luiLlm-v Na,ri>. vrusio.' 5'rü.aoof. 1595. III. 7. p. 384. 401; 9. p. 510.
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reszahl 1423 trug, und vom Chronisten mitgetheilt wird. Im Jahre 1438 kam
wieder ein neuer Haufe durch Böhmen, Oestreich und Bayern, diesmal gar unter einem
kleinen König Ziudelo; auch sie behaupteten aus Aegypten zu sein, und erklärten
sieben Jahr auf Befehl der Gottheit wandern zu müssen, weil ihre Vorfahren
der Mutter Gottes und dem Jesuskinde auf ihrer Flucht nach Aegypten die Gast¬
freundschaft verweigert hätten.

Diese und andere Hansen verbreiteten sich im 13. und 16. Jahrhundert
über ganz Europa. Es gelang ihnen aber trotz dein eitlen Aufputz und ihre»
schlauen Lügen nnr an sehr wenig Orten, die Menschen zu täuschen. Sie er¬
wiesen sich in Kurzem überall als arge Heiden, Zauberer, Wahrsager und höchst
unverschämte Diebe. Sie selbst zersplitterten sich auf der weiten Fahrt in kleinere
. Banden; ihre Führer, die sie, um sich ein Ansehen zu geben, mit allen Fendal-
titeln schmückten, gingen ihnen verloren, sie selbst wurden durch das Wander¬
leben und die Verfolgungen der angesessenen Leute vielfach decimirt.

Unter ihren dürftigen Traditionen über ihre früheren Schicksale mag sich
einiges Geschichtliche erhalten haben, es ist leider schwer herauszufinden. Merk¬
würdig sind bei diesem Eindringen in Europa aber noch mehrere andere Umstände.
Zuerst die schlaue Weise, in welcher sie sich als büßende Pilger dem Wohlwollen der
Christenheit zu empfehlen wissen. Offenbar sind die angegebenen Motive ihrer
Fahrten zum größten Theil mit Frechheit erlogen, aber diese Lügen zeigen eine
so genane Bekanntschaft mit den Eigenthümlichkeiten und Schwächen des christ¬
lichen Abendlandes, daß man schon daraus allein schließen darf, sie seien seit
langer Zeit mit abendländischen Wesen bekannt gewesen. Ferner ist auffallend,
daß sie von Anfang an sich mit Consequenz Kleinägypter nennen. Es findet
sich diese Bezeichnung auch auf Grabsteinen ihrer Führer"), welche sie im 15.
Jahrhundert noch in christlicher Weise aufzurichten für vortheilhaft gehalten haben
müssen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie diese Bezeichnung ihrer Heimath nur
einem geographischen Irrthum der christlichen Gelehrten abgelernt haben, sondern
es ist vielmehr wahrscheinlich, daß uuter diesem Namen in den Ländern um das
schwarze Meer und den mittelländischen Archipel Kleinasien und Syrien verstanden
wurde, welches seit dem Chalifat der Fatimiden in Abhängigkeit von Aegypten
gedacht wurde. Daß Kleinägypteu eine orientalische Länderbezeichnung war, ist auch
aus der Kriegserklärung Achmet IV. an Johann Kasimir von Polen zu ersehen,
in welcher er sich König des großen und kleinen Aegyptens nennt. Die Ansicht,
daß die Zigeuner in Kleinasien gesessen und von dort aus ihre Blicke auf Europa
gerichtet haben, gewinnt noch durch eiuen andern Umstand Wahrscheinlichkeit.
In allen Ländern Europa's fehlen den Zigeunern ihre alten indischen Zahlwörter
für die 7, 8, und 9, und dafür haben sie die griechischen Bezeichnungen ange-

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*) Kanales Susvivi, luiLlm-v Na,ri>. vrusio.' 5'rü.aoof. 1595. III. 7. p. 384. 401; 9. p. 510.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/509>, abgerufen am 22.07.2024.