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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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hier nicht einzugehen, berühren wir nur das weitläufige Gebiet der Philosophie.
In den letzten Jahren hat sich zwar die Polemik etwas beruhigt, sie ist aber
doch uoch immer laut genug, um bei jedem Unbefangenen die Vermuthung her¬
vorzurufen, daß jede einzelne Schule in einer allen übrigen unverständlichen
Sprache Monologe mit sich selbst halte, und daß der Inhalt von Gedanken, den
z. B. ein Hegelianer sür den Inbegriff der Wissenschaft ausgiebt, der vollständigste,
Widerspruch sei gegen den Jdeenvorrath irgend einer andern Schule. Das tritt
bei uns Deutschen noch viel auffallender hervor, weil unsre Philosophen bei ihren
Darstellungen immer die wissenschaftliche Form festhalten. Die Franzosen und
Engländer geben meistentheils ihre Philosophien in der Form von Ansichten und
Meinungen, und wenn das Publicum mit diesen uicht übereinstimmt, so erkennt
es doch unbedingt dem Autor das Recht zu, uach seiner Individualität zu em¬
pfinden und zu meinen. Der deutsche Philosoph dagegen verlangt von seinem
Schüler eine strenge Disciplin, er weiht ihn in eine technische Sprache ein, und
ist nicht zufrieden mit der Annahme einzelner Ansichten und Glaubenssätze, er
verlangt die Aufnahme des Systems in seiner Totalität. Wenn der Schüler
nun hört, daß dieses ganze System von einer andern Seite her als eine Ver-
irrung bezeichnet wird, so kommt er zu leicht ans den Gedanken, hier oder dort
wissentliche Charlatanerie vorauszusetzen.

Diese absolute Widerlegung des einen Systems durch das andere ist aller¬
dings nur ein Schein. Wenn es in der Philosophie viele streitige Punkte giebt,
so bestehen eben so viel reine Resultate der Erkenntniß, über die jeder Philosoph
einig ist. Noch viel mehr ist das bei allen übrigen Disciplinen der Fall. Die
Aufgabe eines wissenschaftlichen Journals, wie das vorliegende, wird also die
sein, diesen der Polemik entzogenen Theil der Wissenschaft dnrch eine plastische
Darstellung zu constatiren, und indem sie ihm seine gleichsam künstlerische'Vollen-
dung giebt, zu gleicher Zeit genau die Grenzlinie anzugeben, wo das Reich der
Polemik, der Hypothese", oder auch der bloßen Einfälle und Meinungen beginnt.
Eine sehr schwere Aufgabe, denn sie setzt sowol umfassendes Wissen, als volle
Unbefangenheit voraus; aber auch eine segensreiche, welche die Wissenschaft als
solche mehr fördert, als eine ganze Menge neuer Systeme und neuer Contro-
verse. Es versteht sich von selbst,, daß eine gelehrte Zeitschrift diese Aufgabe
immer nur an einzelnen Gegenständen erschöpfend wird lösen können;' um so
mehr, da sie sich vorzugsweise auf solche Gebiete einlassen muß,.die noch nicht
so weit abgeschlossen sind, die Form eines Cvmpendiums zu ertragen. Hier
giebt es aber eine Methode, welche die Hauptzwecke eiuer Coutroversschrift er¬
füllt, ohne die sonst damit verbundenen Uebelstände mit sich zu bringen, und die
am meisten dazu geeignet ist, dem gebildeten Publicum Ehrfurcht vor der Wissen¬
schaft, und der Wissenschaft selbst ein freudigeres Selbstgefühl einzuflößen: die
constructive, genetische Methode, die uus nicht blos mit den Resultaten des


hier nicht einzugehen, berühren wir nur das weitläufige Gebiet der Philosophie.
In den letzten Jahren hat sich zwar die Polemik etwas beruhigt, sie ist aber
doch uoch immer laut genug, um bei jedem Unbefangenen die Vermuthung her¬
vorzurufen, daß jede einzelne Schule in einer allen übrigen unverständlichen
Sprache Monologe mit sich selbst halte, und daß der Inhalt von Gedanken, den
z. B. ein Hegelianer sür den Inbegriff der Wissenschaft ausgiebt, der vollständigste,
Widerspruch sei gegen den Jdeenvorrath irgend einer andern Schule. Das tritt
bei uns Deutschen noch viel auffallender hervor, weil unsre Philosophen bei ihren
Darstellungen immer die wissenschaftliche Form festhalten. Die Franzosen und
Engländer geben meistentheils ihre Philosophien in der Form von Ansichten und
Meinungen, und wenn das Publicum mit diesen uicht übereinstimmt, so erkennt
es doch unbedingt dem Autor das Recht zu, uach seiner Individualität zu em¬
pfinden und zu meinen. Der deutsche Philosoph dagegen verlangt von seinem
Schüler eine strenge Disciplin, er weiht ihn in eine technische Sprache ein, und
ist nicht zufrieden mit der Annahme einzelner Ansichten und Glaubenssätze, er
verlangt die Aufnahme des Systems in seiner Totalität. Wenn der Schüler
nun hört, daß dieses ganze System von einer andern Seite her als eine Ver-
irrung bezeichnet wird, so kommt er zu leicht ans den Gedanken, hier oder dort
wissentliche Charlatanerie vorauszusetzen.

Diese absolute Widerlegung des einen Systems durch das andere ist aller¬
dings nur ein Schein. Wenn es in der Philosophie viele streitige Punkte giebt,
so bestehen eben so viel reine Resultate der Erkenntniß, über die jeder Philosoph
einig ist. Noch viel mehr ist das bei allen übrigen Disciplinen der Fall. Die
Aufgabe eines wissenschaftlichen Journals, wie das vorliegende, wird also die
sein, diesen der Polemik entzogenen Theil der Wissenschaft dnrch eine plastische
Darstellung zu constatiren, und indem sie ihm seine gleichsam künstlerische'Vollen-
dung giebt, zu gleicher Zeit genau die Grenzlinie anzugeben, wo das Reich der
Polemik, der Hypothese«, oder auch der bloßen Einfälle und Meinungen beginnt.
Eine sehr schwere Aufgabe, denn sie setzt sowol umfassendes Wissen, als volle
Unbefangenheit voraus; aber auch eine segensreiche, welche die Wissenschaft als
solche mehr fördert, als eine ganze Menge neuer Systeme und neuer Contro-
verse. Es versteht sich von selbst,, daß eine gelehrte Zeitschrift diese Aufgabe
immer nur an einzelnen Gegenständen erschöpfend wird lösen können;' um so
mehr, da sie sich vorzugsweise auf solche Gebiete einlassen muß,.die noch nicht
so weit abgeschlossen sind, die Form eines Cvmpendiums zu ertragen. Hier
giebt es aber eine Methode, welche die Hauptzwecke eiuer Coutroversschrift er¬
füllt, ohne die sonst damit verbundenen Uebelstände mit sich zu bringen, und die
am meisten dazu geeignet ist, dem gebildeten Publicum Ehrfurcht vor der Wissen¬
schaft, und der Wissenschaft selbst ein freudigeres Selbstgefühl einzuflößen: die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/494>, abgerufen am 22.07.2024.