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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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können wir sicher sein, daß wir uns mit diesem Mitgefühl wenigstens im Sinne
des Dichters nicht täuschen werden. Aber bei Alfred de Musset, wie bei Henri
Murger, sind wir mit unsrer Empfindungen, unsren Interessen niemals sicher.
Was wir auf der einen Seite vollkommen gebilligt haben, erscheint uns ans der
nächsten abscheulich, und wovor wir aus der einen Abschen empfinden, das kommt
uns ans der andern vollkommen naturgemäß vor. Diese verschiedenen Stim¬
mungen schillern in einander, und wie es bei dem ewigen Farbenwechsel zu gesche¬
hen pflegt, anch wo die einzelnen Farben sehr hell und leuchtend sind, es wird
daraus ein trübes Grau, über welches sich ein unbestimmter, phosphorartiger
Schimmer breitet.

Von den älteren Dichtern möchte am meisten Jules Sande an mit
dieser neuen Dichtung zu vergleichen sein. Er war bekanntlich der erste Freund
der Georges Sand, die anch ihren Dichternamen nach dem seinigen bildete. Er
hatte an ihrem ersten Roman: l^oss el. Li^nelio, Antheil, und macht sich zuerst
im Jahre 1839 durch einen eigenen Romain Narianna, bekannt, in dem er wahr¬
scheinlich die Reminiscenzen aus seinem Verhältniß zu der Dichterin zu einem
freien Kunstwerk verarbeitete. Es wird darin dargestellt, wie ein leidenschaftliches
Verhältniß, welches keinen Augenblick Ruhe und Sammlung verstattet, auch für
die liebevollste Natur zuletzt unerträglich werdeu muß, und wie in solchen Fällen
ein kühner Schnitt allein im Stande ist, das unangemessene Band zu lösen. Es
sind im Einzelnen sehr viel feine Züge in diesem Roman, und wir werden sowol
dnrch die Wärme der Empfindung, als durch die Paradoxie des Denkens häufig
an Georges Sand erinnert. Der Unterschied ist aber der, daß G. Sand immer
in vollem Glauben schafft, daß sie daher aus vollem Holze schneiden kann, wäh¬
rend, bei Sandean die vorherrschende Stimmung der Zweifel ist, so daß sich anch
die Gefühlsscenen in kleines Schnitzwerk verlieren. Daraus ist zu erklären,
daß der Dichter fortwährend experimentirt. Neben einer Reihe gefühlvoller Dich¬
tungen im Charakter Rousseau's hat er auch einzelne humoristisch-satyrische Sitten-
schilderungen geliefert, z. B. Naäemc)i66l1s 6e Seitzliere, 8üLs et pgrelivmins,
La classe an romari u. f. w., in denen dieselben Empfindungen, die er sonst
von der positiven Seite darstellt, lächerlich gemacht werden. Neuerdings hat er
sich dem Theater und der Oper zugewendet, und auch da keinen Anstand genom¬
men, bei der Dramatisirnug seiner früheren Romane dem Publicum zu Gefallen
den tragischen Ausgang in sein Gegentheil zu verwandeln. Wenn wir anch in
diesem Verfahren mehr Industrie, als wirklichen Künstlertrieb sehen müssen, so
ist sein Talent doch sehr beachtungswerth und Hat auch die gebührende Anerken¬
nung gefunden.

Wenn alle diese Dichter durch ihren sittlichen Inhalt noch mehr gegen den
französischen Geist verstoßen, als die frühere romantische Schule, weil die Unsicher¬
heit des Urtheils, die Verwirrung der Gesichtspunkte, die labyrinthische Ver-


können wir sicher sein, daß wir uns mit diesem Mitgefühl wenigstens im Sinne
des Dichters nicht täuschen werden. Aber bei Alfred de Musset, wie bei Henri
Murger, sind wir mit unsrer Empfindungen, unsren Interessen niemals sicher.
Was wir auf der einen Seite vollkommen gebilligt haben, erscheint uns ans der
nächsten abscheulich, und wovor wir aus der einen Abschen empfinden, das kommt
uns ans der andern vollkommen naturgemäß vor. Diese verschiedenen Stim¬
mungen schillern in einander, und wie es bei dem ewigen Farbenwechsel zu gesche¬
hen pflegt, anch wo die einzelnen Farben sehr hell und leuchtend sind, es wird
daraus ein trübes Grau, über welches sich ein unbestimmter, phosphorartiger
Schimmer breitet.

Von den älteren Dichtern möchte am meisten Jules Sande an mit
dieser neuen Dichtung zu vergleichen sein. Er war bekanntlich der erste Freund
der Georges Sand, die anch ihren Dichternamen nach dem seinigen bildete. Er
hatte an ihrem ersten Roman: l^oss el. Li^nelio, Antheil, und macht sich zuerst
im Jahre 1839 durch einen eigenen Romain Narianna, bekannt, in dem er wahr¬
scheinlich die Reminiscenzen aus seinem Verhältniß zu der Dichterin zu einem
freien Kunstwerk verarbeitete. Es wird darin dargestellt, wie ein leidenschaftliches
Verhältniß, welches keinen Augenblick Ruhe und Sammlung verstattet, auch für
die liebevollste Natur zuletzt unerträglich werdeu muß, und wie in solchen Fällen
ein kühner Schnitt allein im Stande ist, das unangemessene Band zu lösen. Es
sind im Einzelnen sehr viel feine Züge in diesem Roman, und wir werden sowol
dnrch die Wärme der Empfindung, als durch die Paradoxie des Denkens häufig
an Georges Sand erinnert. Der Unterschied ist aber der, daß G. Sand immer
in vollem Glauben schafft, daß sie daher aus vollem Holze schneiden kann, wäh¬
rend, bei Sandean die vorherrschende Stimmung der Zweifel ist, so daß sich anch
die Gefühlsscenen in kleines Schnitzwerk verlieren. Daraus ist zu erklären,
daß der Dichter fortwährend experimentirt. Neben einer Reihe gefühlvoller Dich¬
tungen im Charakter Rousseau's hat er auch einzelne humoristisch-satyrische Sitten-
schilderungen geliefert, z. B. Naäemc)i66l1s 6e Seitzliere, 8üLs et pgrelivmins,
La classe an romari u. f. w., in denen dieselben Empfindungen, die er sonst
von der positiven Seite darstellt, lächerlich gemacht werden. Neuerdings hat er
sich dem Theater und der Oper zugewendet, und auch da keinen Anstand genom¬
men, bei der Dramatisirnug seiner früheren Romane dem Publicum zu Gefallen
den tragischen Ausgang in sein Gegentheil zu verwandeln. Wenn wir anch in
diesem Verfahren mehr Industrie, als wirklichen Künstlertrieb sehen müssen, so
ist sein Talent doch sehr beachtungswerth und Hat auch die gebührende Anerken¬
nung gefunden.

Wenn alle diese Dichter durch ihren sittlichen Inhalt noch mehr gegen den
französischen Geist verstoßen, als die frühere romantische Schule, weil die Unsicher¬
heit des Urtheils, die Verwirrung der Gesichtspunkte, die labyrinthische Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/431>, abgerufen am 22.07.2024.