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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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oder dergleichen erzählt hat, so ist es damit gut; es fallt ihm nicht ein, darüber
zu reflectiren, der ethische Inhalt seiner Begebenheiten ist ihm gleichgiltig, es
kommt ihm nur auf deu Erfolg an. Eugen Tue dagegen versäumt es nie, auf
die Fabel die Moral folgen zu lassen, und wenn diese Moral auch wesentlich von
der unsrigen abweicht, wenn wir es z. B. auch uicht billigen können, daß Ru¬
dolf dem Schulmeister die Augen auffischen läßt, oder daß er die Verführungen
einer Ereolin anwendet, um den Wucherer Ferrand wahnsinnig zu macheu, so ist
diese Moral doch wenigstens immer sehr handgreiflich, und wir wissen, woran
wir uns zu halte" haben.

Die neue Schule nun unterscheidet sich von ihren Vorgängern dadurch, daß
sie diese Klarheit und Handgreiflichkeit ihrer moralischen Principien aufgiebt. In
der Erfindung abscheulicher Scenen geht sie wo möglich uoch weiter, als Sue
oder Dumas, aber sie ist darum weder unbefangen, uoch giebt sie uns einen be¬
stimmten Maßstab des Urtheils. In früherer Zeit, wenn mau einen Ehebruch
darstellen wollte, suchte mau wenigstens einigermaßen zu motiviren; entweder war
der Verführer ein Don Juan, ein Lovelace, oder der Ehemann war ein Blaubart,
ein Cretin, oder zum wenigsten ein verhärteter Philister, der die schöne Seele
seiner Frau nicht begriff. War das aber nicht der Fall, so zeigte sich in den
Folgen die Unzweckmäßigst der That, die gefallene Frau bereute, oder wurde
vou ihrem Mann erschossen u. f. w. In den Geschichten aus dem Pariser Leben,
die uns Heult Mnrger giebt, ist ein solches Verhältniß zwischen Ursache und
Wirkuug nicht mehr vorhanden. In der Regel fängt die Geschichte damit an, daß
die Frau mit ihrem Liebhaber durchgeht, der Maun ist abgethan, wir erfahre"
Nichts weiter vo" ihm, und was später erfolgt, wird durch diese erste Geschichte
uicht mehr bedingt. Bei dieser Rücksichtslosigkeit gegen die gewöhnlichen sittlichen
Vorstellungen zeigt aber der Dichter eine sehr feine Empfänglichkeit für kleine
Sünden, die man gegen den heiligen Geist des Herzens begeht. Die Untreue
im Großen setzt ihn nicht in Verwunderung, aber wenn man irgend ein unzweck¬
mäßiges Wort fallen läßt, welches der herrschenden Stimmung nicht entspricht,
so knüpft sich eine ganze Reihe sentimentaler Reflexionen daran. Eben so wie
Alfred de Müsset zeichnet sich Murger durch die Zierlichkeit und Sauberkeit seiner
Darstellung aus. Das kleine Schnitzwerk ist mit vollendeter Virtuosität ausgeführt,
und ebeu darum ist seiue Dichtung mehr für die feine Welt, als für das gewöhn¬
liche Nomanpublicnm berechnet. Aber weil sich seine Kunst ius Detail verliert,
fehlt ihr jene Kraft des lebendigen Organismus, die wenigstens bis zu einem
gewissen Grade auch in deu rohen Erfindungen jener gelesenen Schriftsteller vor¬
handen ist. Wenn bei Eugen Sue eine Verwickelung vorkommt, so kann man
doch darauf rechnen, daß wohl oder übel irgend eine Lösung derselben eintreten
wird, und wenn der Dichter uus in irgend eine Stimmung versetzt, für irgend
eine Person oder sür eine Situation unser Mitgefühl in Anspruch nimmt, so


oder dergleichen erzählt hat, so ist es damit gut; es fallt ihm nicht ein, darüber
zu reflectiren, der ethische Inhalt seiner Begebenheiten ist ihm gleichgiltig, es
kommt ihm nur auf deu Erfolg an. Eugen Tue dagegen versäumt es nie, auf
die Fabel die Moral folgen zu lassen, und wenn diese Moral auch wesentlich von
der unsrigen abweicht, wenn wir es z. B. auch uicht billigen können, daß Ru¬
dolf dem Schulmeister die Augen auffischen läßt, oder daß er die Verführungen
einer Ereolin anwendet, um den Wucherer Ferrand wahnsinnig zu macheu, so ist
diese Moral doch wenigstens immer sehr handgreiflich, und wir wissen, woran
wir uns zu halte» haben.

Die neue Schule nun unterscheidet sich von ihren Vorgängern dadurch, daß
sie diese Klarheit und Handgreiflichkeit ihrer moralischen Principien aufgiebt. In
der Erfindung abscheulicher Scenen geht sie wo möglich uoch weiter, als Sue
oder Dumas, aber sie ist darum weder unbefangen, uoch giebt sie uns einen be¬
stimmten Maßstab des Urtheils. In früherer Zeit, wenn mau einen Ehebruch
darstellen wollte, suchte mau wenigstens einigermaßen zu motiviren; entweder war
der Verführer ein Don Juan, ein Lovelace, oder der Ehemann war ein Blaubart,
ein Cretin, oder zum wenigsten ein verhärteter Philister, der die schöne Seele
seiner Frau nicht begriff. War das aber nicht der Fall, so zeigte sich in den
Folgen die Unzweckmäßigst der That, die gefallene Frau bereute, oder wurde
vou ihrem Mann erschossen u. f. w. In den Geschichten aus dem Pariser Leben,
die uns Heult Mnrger giebt, ist ein solches Verhältniß zwischen Ursache und
Wirkuug nicht mehr vorhanden. In der Regel fängt die Geschichte damit an, daß
die Frau mit ihrem Liebhaber durchgeht, der Maun ist abgethan, wir erfahre»
Nichts weiter vo» ihm, und was später erfolgt, wird durch diese erste Geschichte
uicht mehr bedingt. Bei dieser Rücksichtslosigkeit gegen die gewöhnlichen sittlichen
Vorstellungen zeigt aber der Dichter eine sehr feine Empfänglichkeit für kleine
Sünden, die man gegen den heiligen Geist des Herzens begeht. Die Untreue
im Großen setzt ihn nicht in Verwunderung, aber wenn man irgend ein unzweck¬
mäßiges Wort fallen läßt, welches der herrschenden Stimmung nicht entspricht,
so knüpft sich eine ganze Reihe sentimentaler Reflexionen daran. Eben so wie
Alfred de Müsset zeichnet sich Murger durch die Zierlichkeit und Sauberkeit seiner
Darstellung aus. Das kleine Schnitzwerk ist mit vollendeter Virtuosität ausgeführt,
und ebeu darum ist seiue Dichtung mehr für die feine Welt, als für das gewöhn¬
liche Nomanpublicnm berechnet. Aber weil sich seine Kunst ius Detail verliert,
fehlt ihr jene Kraft des lebendigen Organismus, die wenigstens bis zu einem
gewissen Grade auch in deu rohen Erfindungen jener gelesenen Schriftsteller vor¬
handen ist. Wenn bei Eugen Sue eine Verwickelung vorkommt, so kann man
doch darauf rechnen, daß wohl oder übel irgend eine Lösung derselben eintreten
wird, und wenn der Dichter uus in irgend eine Stimmung versetzt, für irgend
eine Person oder sür eine Situation unser Mitgefühl in Anspruch nimmt, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/430>, abgerufen am 22.07.2024.