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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Nur mit größter Vorsicht darf man nach Analogie der indischen Dialekte die ihnen am
nächsten stehende Aussprache und Schreibung für die richtige oder ursprüngliche halten.

Die Laute der Sprache haben noch jetzt viel von indischem Wesen. Die
Zisch-, Hauch- und Kehllaute des Sanskrit lassen sich fast alle deutlich erkennen;
aber auch die Vocale haben eine originelle Aussprache und bilden hänfig für
einen Fremden schwer ausznsprechende Doppelklänge. Der Klang der Sprache
ist graziös und musikalisch, sie wird mit einem gewissen zierlichen Anstand gesprochen,
den der sprechende Zigeuner mit Behagen zu empfinden scheint. Die Wortbildung
ist ziemlich dürftig geworden. Jene kräftige Wandlung der Wörter bei den ältern
indogermanischen Sprache", wo der Stamm selbst bei Ableitungen, in Declination
und Conjugation, Veränderungen zumal seines Vocales erfährt und die neuen
Wörter plastisch bilden hilft, ist fast ganz verloren. Die Endungen, welche ans
den Stämmen die abgeleiteten Wörter, die verschiedenen Casns und Zeiten bilden
helfen, haben den Charakter von Suffixen angenommen, welche schlotterig an "dem
mageren Körper der alten Wörter hängen. Mit großer Dreistigkeit werden ein¬
zelne fremde Bildungssylben an einheimische Wörter gehängt, noch dreister und
kindischer alte Bildungssylben an fremde, gestohlene Wörter, z. B. neben dem
indischen Kamavk ich will, kreuüerwük-i ich freue mich.

Bei den Substantiven hat die Sprache doch uoch besondere Ableitungssylben
für abstracte Begriffe. An zusammengesetzten Wörtern ist sie nicht reich, sie ver¬
bindet oft, statt zu componiren, das Adjectiv nachlässig mit dem Substantiv, z. B.
Gänsebraten: papin peKKi Gans gebraten.

Die Zigeunersprache unterscheidet an ihren Substantiven und deren Gefolge
zwei Geschlechter, das Neutrum hat sie verloren. Dagegen ist der feine Sinn
für den Unterschied zwischen dem Lebendigen und Leblosen nicht ans der
Sprache verschwunden. Er äußert sich darin, daß die Wörter, welche vernünftige
und belebte Wesen bezeichnen, im Accusativ eine besondere Form erhalten, wäh¬
rend bei leblosen Dingen, oder solchen, deren Leben wenig Jmponirendes hat,
der Accusativ dem Nominativ gleich ist. Z. B. in<z äava toliiz tselürikles ich
gebe dir den Vogel, aber nie clava, tottei KaKewi (kein.) ich gebe dir den Kessel.
Derselbe Unterschied wird im Mharattischen und Hindustani gemacht.

Die Substantive begleitet zuweilen ein Artikel, welcher beide Geschlechter uu-
terscheidet, aber sorglos und unordentlich gebraucht wird.

Die Declination der Substantive hat, wie in mehreren anderen indischen
Dialekten, keinen Genitiv; an seiner Stelle wird im Satze zu dem regierenden
Worte das Adjectiv gesetzt, statt: "das Wort Gottes" sagt der Zigeuner: das gött¬
liche Wort. Während aber das Freiheitsgefühl des Zigeuners diesen Casus der
directen und unbedingten Abhängigkeit vernichtet hat, besitzt er mehrere Casus
zur Bezeichnung der Llbhängigkeitsverhältnisse, welche wir dnrch Präpositionen
ausdrücken, zwei Dative, und außerdem Ablativ, Locativ und Instrumentalis.


Nur mit größter Vorsicht darf man nach Analogie der indischen Dialekte die ihnen am
nächsten stehende Aussprache und Schreibung für die richtige oder ursprüngliche halten.

Die Laute der Sprache haben noch jetzt viel von indischem Wesen. Die
Zisch-, Hauch- und Kehllaute des Sanskrit lassen sich fast alle deutlich erkennen;
aber auch die Vocale haben eine originelle Aussprache und bilden hänfig für
einen Fremden schwer ausznsprechende Doppelklänge. Der Klang der Sprache
ist graziös und musikalisch, sie wird mit einem gewissen zierlichen Anstand gesprochen,
den der sprechende Zigeuner mit Behagen zu empfinden scheint. Die Wortbildung
ist ziemlich dürftig geworden. Jene kräftige Wandlung der Wörter bei den ältern
indogermanischen Sprache«, wo der Stamm selbst bei Ableitungen, in Declination
und Conjugation, Veränderungen zumal seines Vocales erfährt und die neuen
Wörter plastisch bilden hilft, ist fast ganz verloren. Die Endungen, welche ans
den Stämmen die abgeleiteten Wörter, die verschiedenen Casns und Zeiten bilden
helfen, haben den Charakter von Suffixen angenommen, welche schlotterig an „dem
mageren Körper der alten Wörter hängen. Mit großer Dreistigkeit werden ein¬
zelne fremde Bildungssylben an einheimische Wörter gehängt, noch dreister und
kindischer alte Bildungssylben an fremde, gestohlene Wörter, z. B. neben dem
indischen Kamavk ich will, kreuüerwük-i ich freue mich.

Bei den Substantiven hat die Sprache doch uoch besondere Ableitungssylben
für abstracte Begriffe. An zusammengesetzten Wörtern ist sie nicht reich, sie ver¬
bindet oft, statt zu componiren, das Adjectiv nachlässig mit dem Substantiv, z. B.
Gänsebraten: papin peKKi Gans gebraten.

Die Zigeunersprache unterscheidet an ihren Substantiven und deren Gefolge
zwei Geschlechter, das Neutrum hat sie verloren. Dagegen ist der feine Sinn
für den Unterschied zwischen dem Lebendigen und Leblosen nicht ans der
Sprache verschwunden. Er äußert sich darin, daß die Wörter, welche vernünftige
und belebte Wesen bezeichnen, im Accusativ eine besondere Form erhalten, wäh¬
rend bei leblosen Dingen, oder solchen, deren Leben wenig Jmponirendes hat,
der Accusativ dem Nominativ gleich ist. Z. B. in<z äava toliiz tselürikles ich
gebe dir den Vogel, aber nie clava, tottei KaKewi (kein.) ich gebe dir den Kessel.
Derselbe Unterschied wird im Mharattischen und Hindustani gemacht.

Die Substantive begleitet zuweilen ein Artikel, welcher beide Geschlechter uu-
terscheidet, aber sorglos und unordentlich gebraucht wird.

Die Declination der Substantive hat, wie in mehreren anderen indischen
Dialekten, keinen Genitiv; an seiner Stelle wird im Satze zu dem regierenden
Worte das Adjectiv gesetzt, statt: „das Wort Gottes" sagt der Zigeuner: das gött¬
liche Wort. Während aber das Freiheitsgefühl des Zigeuners diesen Casus der
directen und unbedingten Abhängigkeit vernichtet hat, besitzt er mehrere Casus
zur Bezeichnung der Llbhängigkeitsverhältnisse, welche wir dnrch Präpositionen
ausdrücken, zwei Dative, und außerdem Ablativ, Locativ und Instrumentalis.


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[0426] Nur mit größter Vorsicht darf man nach Analogie der indischen Dialekte die ihnen am nächsten stehende Aussprache und Schreibung für die richtige oder ursprüngliche halten. Die Laute der Sprache haben noch jetzt viel von indischem Wesen. Die Zisch-, Hauch- und Kehllaute des Sanskrit lassen sich fast alle deutlich erkennen; aber auch die Vocale haben eine originelle Aussprache und bilden hänfig für einen Fremden schwer ausznsprechende Doppelklänge. Der Klang der Sprache ist graziös und musikalisch, sie wird mit einem gewissen zierlichen Anstand gesprochen, den der sprechende Zigeuner mit Behagen zu empfinden scheint. Die Wortbildung ist ziemlich dürftig geworden. Jene kräftige Wandlung der Wörter bei den ältern indogermanischen Sprache«, wo der Stamm selbst bei Ableitungen, in Declination und Conjugation, Veränderungen zumal seines Vocales erfährt und die neuen Wörter plastisch bilden hilft, ist fast ganz verloren. Die Endungen, welche ans den Stämmen die abgeleiteten Wörter, die verschiedenen Casns und Zeiten bilden helfen, haben den Charakter von Suffixen angenommen, welche schlotterig an „dem mageren Körper der alten Wörter hängen. Mit großer Dreistigkeit werden ein¬ zelne fremde Bildungssylben an einheimische Wörter gehängt, noch dreister und kindischer alte Bildungssylben an fremde, gestohlene Wörter, z. B. neben dem indischen Kamavk ich will, kreuüerwük-i ich freue mich. Bei den Substantiven hat die Sprache doch uoch besondere Ableitungssylben für abstracte Begriffe. An zusammengesetzten Wörtern ist sie nicht reich, sie ver¬ bindet oft, statt zu componiren, das Adjectiv nachlässig mit dem Substantiv, z. B. Gänsebraten: papin peKKi Gans gebraten. Die Zigeunersprache unterscheidet an ihren Substantiven und deren Gefolge zwei Geschlechter, das Neutrum hat sie verloren. Dagegen ist der feine Sinn für den Unterschied zwischen dem Lebendigen und Leblosen nicht ans der Sprache verschwunden. Er äußert sich darin, daß die Wörter, welche vernünftige und belebte Wesen bezeichnen, im Accusativ eine besondere Form erhalten, wäh¬ rend bei leblosen Dingen, oder solchen, deren Leben wenig Jmponirendes hat, der Accusativ dem Nominativ gleich ist. Z. B. in<z äava toliiz tselürikles ich gebe dir den Vogel, aber nie clava, tottei KaKewi (kein.) ich gebe dir den Kessel. Derselbe Unterschied wird im Mharattischen und Hindustani gemacht. Die Substantive begleitet zuweilen ein Artikel, welcher beide Geschlechter uu- terscheidet, aber sorglos und unordentlich gebraucht wird. Die Declination der Substantive hat, wie in mehreren anderen indischen Dialekten, keinen Genitiv; an seiner Stelle wird im Satze zu dem regierenden Worte das Adjectiv gesetzt, statt: „das Wort Gottes" sagt der Zigeuner: das gött¬ liche Wort. Während aber das Freiheitsgefühl des Zigeuners diesen Casus der directen und unbedingten Abhängigkeit vernichtet hat, besitzt er mehrere Casus zur Bezeichnung der Llbhängigkeitsverhältnisse, welche wir dnrch Präpositionen ausdrücken, zwei Dative, und außerdem Ablativ, Locativ und Instrumentalis.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/426>, abgerufen am 22.07.2024.