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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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englischen Humoristen zu thun Pflegen, z. B. der ganz frivole Hook, aber auch
Dickens in seinen Pickwickiern; im Gegentheil wird die Nothwendigkeit jener for¬
malen Nechtsbestimmnngen zum Gedeihen des öffentlichen Lebens, auch wo sie
nicht blos das Gefühl der Billigkeit, sondern selbst das materielle Recht beeinträch¬
tigen, mit großem Ernst vertheidigt. Dieser eine Proceß giebt dem Dichter Ge¬
legenheit, die verschiedenartigsten Nechlsverwickelungen in ein Gesammtbild zu¬
sammenzudrängen. -- Ju einer eben solchen Breite ist auch das politische Leben
geschildert, die Deputirtenwcchlen und das Verhalten der Parteien im Parlamente.
Aber hier ist Warren nicht so unbefangen; er ist eingefleischter Tory, und läßt
keine Gelegenheit vorüber, die Liberalen aus das Bielersee zu verhöhnen, theils
wegen ihrer religiösen Freigeisterei, theils wegen ihrer demagogischen Unredlichkeit,
mit der sie den rohesten Egoismus hinter dem Vorwand allgemeiner Menschen¬
liebe verstecken. Wenn wir von dieser politischen Einseitigkeit absehen, die
übrigens niemals auf vollständige Unwahrheit ausläuft, so müssen wir zugesehen,
daß much hier die Schilderung sehr lebhaft und anschaulich ist, und uns über viele
Punkte aufklärt.

Wenn mit diesen Vorzügen zugleich der Fehler einer über das Maß
hinausgehenden Breite, eiuer Häufung technischer Ausdrucke und einer bestän¬
digen Einschiebung von Episoden verknüpft ist, die nicht der Entwickelung der
Handlung, sondern lediglich der Sittenschilderung dienen, so wird das Un-
künstlerische dieser Darstellung noch dadurch erhöht, daß die leitende Idee des
Buches der entschiedenste Pessimismus ist. - Es ist eine sonderbare, aber nicht
seltene Erscheinung, daß die conservative Doctrin sich mit der Ueberzeugung von
der Schlechtigkeit aller menschlichen Einrichtungen zusammenfindet. Der Gegen¬
stand des Romans, die zehntausend Pfund, haben ganz die Bestimmung von
Hebbel's "Diamant"; sie dienen nur dazu, alle Menschen, die in irgend eine
Berührung damit kommen, als die niederträchtigsten Egoisten darzustellen. Die
von Carlyle erfundene, und von ihm und seiner Schule bereits über alles Maß
ausgebeutete Kategorie des Mammonismns, d. h. des Götzendienstes, vor dem
goldenen Kalb des Geldes, breitet sich wie eine trübselige Atmosphäre über die
Handlung, und es ist charakteristisch, daß der Verfasser selbst diesem Götzendienst
verfallen ist, denn anch er weiß sich kein höheres Glück zu träumen, als eine
' auf gesetzlichem Wege erlangte Lordschaft. Es ist daher noch als ein Rest von
natürlichem Gefühl mit Dank aufzunehmen, daß er am Schluß die Tugend zu
Tisch führt, während sich das Laster erbricht, obgleich dieser Ausgang.durch den
Zufall als ein vous ex maelnna herbeigeführt, wird.

So lange sich der Roman in Caricatnren bewegt, ist wenigstens die technische
Ausführung zu bewundern. Der Dichter muß in allen Ständen sehr genaue und
scharfe Beobachtungen gemacht haben, die Charakterzüge, die er anführt,
sind zuweilen sehr sein. Der Hauptheld selbst, Tittlebat Titmouse und seine


englischen Humoristen zu thun Pflegen, z. B. der ganz frivole Hook, aber auch
Dickens in seinen Pickwickiern; im Gegentheil wird die Nothwendigkeit jener for¬
malen Nechtsbestimmnngen zum Gedeihen des öffentlichen Lebens, auch wo sie
nicht blos das Gefühl der Billigkeit, sondern selbst das materielle Recht beeinträch¬
tigen, mit großem Ernst vertheidigt. Dieser eine Proceß giebt dem Dichter Ge¬
legenheit, die verschiedenartigsten Nechlsverwickelungen in ein Gesammtbild zu¬
sammenzudrängen. — Ju einer eben solchen Breite ist auch das politische Leben
geschildert, die Deputirtenwcchlen und das Verhalten der Parteien im Parlamente.
Aber hier ist Warren nicht so unbefangen; er ist eingefleischter Tory, und läßt
keine Gelegenheit vorüber, die Liberalen aus das Bielersee zu verhöhnen, theils
wegen ihrer religiösen Freigeisterei, theils wegen ihrer demagogischen Unredlichkeit,
mit der sie den rohesten Egoismus hinter dem Vorwand allgemeiner Menschen¬
liebe verstecken. Wenn wir von dieser politischen Einseitigkeit absehen, die
übrigens niemals auf vollständige Unwahrheit ausläuft, so müssen wir zugesehen,
daß much hier die Schilderung sehr lebhaft und anschaulich ist, und uns über viele
Punkte aufklärt.

Wenn mit diesen Vorzügen zugleich der Fehler einer über das Maß
hinausgehenden Breite, eiuer Häufung technischer Ausdrucke und einer bestän¬
digen Einschiebung von Episoden verknüpft ist, die nicht der Entwickelung der
Handlung, sondern lediglich der Sittenschilderung dienen, so wird das Un-
künstlerische dieser Darstellung noch dadurch erhöht, daß die leitende Idee des
Buches der entschiedenste Pessimismus ist. - Es ist eine sonderbare, aber nicht
seltene Erscheinung, daß die conservative Doctrin sich mit der Ueberzeugung von
der Schlechtigkeit aller menschlichen Einrichtungen zusammenfindet. Der Gegen¬
stand des Romans, die zehntausend Pfund, haben ganz die Bestimmung von
Hebbel's „Diamant"; sie dienen nur dazu, alle Menschen, die in irgend eine
Berührung damit kommen, als die niederträchtigsten Egoisten darzustellen. Die
von Carlyle erfundene, und von ihm und seiner Schule bereits über alles Maß
ausgebeutete Kategorie des Mammonismns, d. h. des Götzendienstes, vor dem
goldenen Kalb des Geldes, breitet sich wie eine trübselige Atmosphäre über die
Handlung, und es ist charakteristisch, daß der Verfasser selbst diesem Götzendienst
verfallen ist, denn anch er weiß sich kein höheres Glück zu träumen, als eine
' auf gesetzlichem Wege erlangte Lordschaft. Es ist daher noch als ein Rest von
natürlichem Gefühl mit Dank aufzunehmen, daß er am Schluß die Tugend zu
Tisch führt, während sich das Laster erbricht, obgleich dieser Ausgang.durch den
Zufall als ein vous ex maelnna herbeigeführt, wird.

So lange sich der Roman in Caricatnren bewegt, ist wenigstens die technische
Ausführung zu bewundern. Der Dichter muß in allen Ständen sehr genaue und
scharfe Beobachtungen gemacht haben, die Charakterzüge, die er anführt,
sind zuweilen sehr sein. Der Hauptheld selbst, Tittlebat Titmouse und seine


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[0415] englischen Humoristen zu thun Pflegen, z. B. der ganz frivole Hook, aber auch Dickens in seinen Pickwickiern; im Gegentheil wird die Nothwendigkeit jener for¬ malen Nechtsbestimmnngen zum Gedeihen des öffentlichen Lebens, auch wo sie nicht blos das Gefühl der Billigkeit, sondern selbst das materielle Recht beeinträch¬ tigen, mit großem Ernst vertheidigt. Dieser eine Proceß giebt dem Dichter Ge¬ legenheit, die verschiedenartigsten Nechlsverwickelungen in ein Gesammtbild zu¬ sammenzudrängen. — Ju einer eben solchen Breite ist auch das politische Leben geschildert, die Deputirtenwcchlen und das Verhalten der Parteien im Parlamente. Aber hier ist Warren nicht so unbefangen; er ist eingefleischter Tory, und läßt keine Gelegenheit vorüber, die Liberalen aus das Bielersee zu verhöhnen, theils wegen ihrer religiösen Freigeisterei, theils wegen ihrer demagogischen Unredlichkeit, mit der sie den rohesten Egoismus hinter dem Vorwand allgemeiner Menschen¬ liebe verstecken. Wenn wir von dieser politischen Einseitigkeit absehen, die übrigens niemals auf vollständige Unwahrheit ausläuft, so müssen wir zugesehen, daß much hier die Schilderung sehr lebhaft und anschaulich ist, und uns über viele Punkte aufklärt. Wenn mit diesen Vorzügen zugleich der Fehler einer über das Maß hinausgehenden Breite, eiuer Häufung technischer Ausdrucke und einer bestän¬ digen Einschiebung von Episoden verknüpft ist, die nicht der Entwickelung der Handlung, sondern lediglich der Sittenschilderung dienen, so wird das Un- künstlerische dieser Darstellung noch dadurch erhöht, daß die leitende Idee des Buches der entschiedenste Pessimismus ist. - Es ist eine sonderbare, aber nicht seltene Erscheinung, daß die conservative Doctrin sich mit der Ueberzeugung von der Schlechtigkeit aller menschlichen Einrichtungen zusammenfindet. Der Gegen¬ stand des Romans, die zehntausend Pfund, haben ganz die Bestimmung von Hebbel's „Diamant"; sie dienen nur dazu, alle Menschen, die in irgend eine Berührung damit kommen, als die niederträchtigsten Egoisten darzustellen. Die von Carlyle erfundene, und von ihm und seiner Schule bereits über alles Maß ausgebeutete Kategorie des Mammonismns, d. h. des Götzendienstes, vor dem goldenen Kalb des Geldes, breitet sich wie eine trübselige Atmosphäre über die Handlung, und es ist charakteristisch, daß der Verfasser selbst diesem Götzendienst verfallen ist, denn anch er weiß sich kein höheres Glück zu träumen, als eine ' auf gesetzlichem Wege erlangte Lordschaft. Es ist daher noch als ein Rest von natürlichem Gefühl mit Dank aufzunehmen, daß er am Schluß die Tugend zu Tisch führt, während sich das Laster erbricht, obgleich dieser Ausgang.durch den Zufall als ein vous ex maelnna herbeigeführt, wird. So lange sich der Roman in Caricatnren bewegt, ist wenigstens die technische Ausführung zu bewundern. Der Dichter muß in allen Ständen sehr genaue und scharfe Beobachtungen gemacht haben, die Charakterzüge, die er anführt, sind zuweilen sehr sein. Der Hauptheld selbst, Tittlebat Titmouse und seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/415>, abgerufen am 22.07.2024.