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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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selben hervor, daß weder die englische Sprache, noch die gewöhnliche Nomanform
ausreicht, dieser Fülle von Ideen gerecht zu werden. Wir finden uns bei ihnen
in einem gestaltlosen Nebel, der uns jeden Augenblick an die bekannte Atmosphäre
unsrer literarischen Heimath erinnert.

Der Dichter, mit dem wir uns heute beschäftigen, macht in dieser Beziehung
eine Ausnahme, wenn er auch in der letzten seiner Schriften durch eine natur¬
gemäße Entwickelung leider in der Jean Paul-Carlyle'scheu Sphäre angelangt
ist, in welcher sich die Uebrigen bewegen. Ursprünglich war er Nichts weniger,
als ein überschwenglicher Phantast; er fing vielmehr mit der allertrockeusten Rea¬
lität an, mit einer Mischung von Richardson und Smollet, nur gefärbt durch die
Melancholie der modernen Byron'schen Weltanschauung.

Das Werk, wodurch er seinen Ruf begründete, waren die Blätter ans
dem Tagebuche eines Arztes (^assaxes trou ete Oiar^ ok a, late
sieian), zuerst einzeln in Blackwood's Magazin, dann 1832 gesammelt. Es sind
einzelne Erzählungen, uur durch den gemeinsamen Gegenstand mit einander ver¬
knüpft. Ein wohlwollender und etwas empfindsamer Arzt erzählt seine Krankheits¬
geschichten. Der Reiz dieser Erzählungen ist ein rein materieller, und eigentlich
ganz mit dem Eindruck verwandt, den Eugen Sue's Erfindungen auf die Phan¬
tasie ausüben. Allerdings geht der Engländer mit größerer Gründlichkeit zu
Werke; er hat ans seinem Gegenstande ein wirkliches Studium gemacht, und seine
Erfindungen dürften für Aerzte selbst nicht ohne Interesse und Belehrung sein.
Dieser Gegenstand ist aber der häßlichste, den je die Phantasie eines Dichters
ausgesonnen hat. Es kommt in neuerer Zeit häufig vor, daß mau Crimiualfälle
für das größere Publicum sammelt, nicht im juristische" Juteresse, auch nicht blos
um die Neugier zu spannen, sondern als psychologische Studien über die Nacht¬
seite der menschlichen Natur. Solche Sammlungen machen ans das natürliche
Gefühl einen sehr häßlichen Eindruck, deun wenn es anch dem Dichter eben so
wenig wie dem Sammler einfüllt, in dieser Sammlung die Totalität des mensch¬
lichen Lebens zu suchen, so ist man doch wenigstens während der Lectüre in diesen
finstern Kreis gebannt und durch eiuen magischen Faden von aller Heiterkeit des
Lebens geschieden. Auch in diesen Criminalfällen bleibt doch wenigstens ein ge¬
wisses geistiges Interesse; wir werden versucht, im Verbrechen selbst eine Art von
Freiheit, in der Entdeckung und Bestrafung desselben eine Art vou Nothwendigkeit
zu entdecken, die beide mit einander in wesentlicher Wirkung stehe". Bei bloßen
Krankheitsgeschichten fallen wir aber vollständig in die Gewalt der Physik., In
dem Tagebuche ist eine so große Reichhaltigkeit von Krankheitsscenen, eine so
große Virtuosität in der Ausmalung von Sterbefällen, daß man an einen der
Lieblingscharaktere Ainsworth's erinnert wird, der sich zu seinem Vergnügen eine
Sammlung vou allen möglichen Folterwerkzeugen anlegte. Wenn Warren bei
seinen Erzählungen mehr Gemüth aufwendet, so macht er damit die Sache nur


selben hervor, daß weder die englische Sprache, noch die gewöhnliche Nomanform
ausreicht, dieser Fülle von Ideen gerecht zu werden. Wir finden uns bei ihnen
in einem gestaltlosen Nebel, der uns jeden Augenblick an die bekannte Atmosphäre
unsrer literarischen Heimath erinnert.

Der Dichter, mit dem wir uns heute beschäftigen, macht in dieser Beziehung
eine Ausnahme, wenn er auch in der letzten seiner Schriften durch eine natur¬
gemäße Entwickelung leider in der Jean Paul-Carlyle'scheu Sphäre angelangt
ist, in welcher sich die Uebrigen bewegen. Ursprünglich war er Nichts weniger,
als ein überschwenglicher Phantast; er fing vielmehr mit der allertrockeusten Rea¬
lität an, mit einer Mischung von Richardson und Smollet, nur gefärbt durch die
Melancholie der modernen Byron'schen Weltanschauung.

Das Werk, wodurch er seinen Ruf begründete, waren die Blätter ans
dem Tagebuche eines Arztes (^assaxes trou ete Oiar^ ok a, late
sieian), zuerst einzeln in Blackwood's Magazin, dann 1832 gesammelt. Es sind
einzelne Erzählungen, uur durch den gemeinsamen Gegenstand mit einander ver¬
knüpft. Ein wohlwollender und etwas empfindsamer Arzt erzählt seine Krankheits¬
geschichten. Der Reiz dieser Erzählungen ist ein rein materieller, und eigentlich
ganz mit dem Eindruck verwandt, den Eugen Sue's Erfindungen auf die Phan¬
tasie ausüben. Allerdings geht der Engländer mit größerer Gründlichkeit zu
Werke; er hat ans seinem Gegenstande ein wirkliches Studium gemacht, und seine
Erfindungen dürften für Aerzte selbst nicht ohne Interesse und Belehrung sein.
Dieser Gegenstand ist aber der häßlichste, den je die Phantasie eines Dichters
ausgesonnen hat. Es kommt in neuerer Zeit häufig vor, daß mau Crimiualfälle
für das größere Publicum sammelt, nicht im juristische« Juteresse, auch nicht blos
um die Neugier zu spannen, sondern als psychologische Studien über die Nacht¬
seite der menschlichen Natur. Solche Sammlungen machen ans das natürliche
Gefühl einen sehr häßlichen Eindruck, deun wenn es anch dem Dichter eben so
wenig wie dem Sammler einfüllt, in dieser Sammlung die Totalität des mensch¬
lichen Lebens zu suchen, so ist man doch wenigstens während der Lectüre in diesen
finstern Kreis gebannt und durch eiuen magischen Faden von aller Heiterkeit des
Lebens geschieden. Auch in diesen Criminalfällen bleibt doch wenigstens ein ge¬
wisses geistiges Interesse; wir werden versucht, im Verbrechen selbst eine Art von
Freiheit, in der Entdeckung und Bestrafung desselben eine Art vou Nothwendigkeit
zu entdecken, die beide mit einander in wesentlicher Wirkung stehe». Bei bloßen
Krankheitsgeschichten fallen wir aber vollständig in die Gewalt der Physik., In
dem Tagebuche ist eine so große Reichhaltigkeit von Krankheitsscenen, eine so
große Virtuosität in der Ausmalung von Sterbefällen, daß man an einen der
Lieblingscharaktere Ainsworth's erinnert wird, der sich zu seinem Vergnügen eine
Sammlung vou allen möglichen Folterwerkzeugen anlegte. Wenn Warren bei
seinen Erzählungen mehr Gemüth aufwendet, so macht er damit die Sache nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/412>, abgerufen am 22.07.2024.