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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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sie hart auf der Grenze zwischen dem Entsetzlichen und Lächerlichen stehlt Am
häßlichsten aber ist die trübe, alles Ideals entbehrende Stimmung, die sich
über das ganze Gemälde breitet, eine Stimmung, die wir auch bei den
neuesten englischen Novellisten wiederfinden, und die ihren ersten Grund in
einer sophistischen Moral hat. Falkland stellt einmal die Behauptung aus, die
Wahrheit und Gerechtigkeit seien nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der
Glückseligkeit, auf die sie berechnet seien, zu verehren, und die nämliche Ansicht
wird stillschweigend von allen betheiligten Personen und vom Verfasser selbst ge¬
hegt. Es ist das aber jene erste Lüge des klügelnden Verstandes, aus der alle
Unsittlichkeit entspringt. Daraus ist auch zu erkläre", daß wir fast überall ein
sicheres Urtheil vermissen, ein Urtheil, welches nicht erst nöthig hat, sich weitläufig
auszusprechen, welches wir aber aus der ganzen Darstellung instinctartig heraus¬
fühlen wollen. Die Schändlichkeiten Falklands werden in einem Licht darge¬
stellt, das nicht darauf berechnet ist, unsren Abscheu, souderu unser Mitleid zu
erregen. Die Mischung von gut und böse in den wirklichen Charakteren ist
eine unbestreitbare Thatsache; allein die Poesie verkennt ihre Aufgabe, wenn sie
sich an den Materialismus der Thatsachen verkauft, anstatt mit ihrem unfehl¬
baren Licht die in der Wirklichkeit verbundenen Gegensätze von einander zu
scheiden. --

Im Jahre 1797 verheirathete sich Godwin mit Mary Wollstoncraft, einer
der ersten Frauen, welche in neuerer Zeit die Idee der Weiberemancipation ver¬
treten haben, und die durch ihre beiden Schriften: Vinäiealion ok et<z rig-Kts ok
>vomer, und die Retters trollt Nor^va^ bei dem einen Theil des Publicums
einen großen Ruf, bei dem andern, größern eine mit Erstannen gemischte Mi߬
billigung hervorgerufen hatte. Sie starb noch in demselben Jahre, nachdem sie
ihm eine Tochter geboren, die sich später mit Shelley verheirathete. Er verhei¬
rathete sich 1801 zum zweiten Male.

' Sein folgender Roman war 8awt l^con (1799), gewissermaßen ein Vorbild
zu NelmotQ. Der Held desselben war in den Besitz des Steines der Weisen
gekommen, und hatte außerdem einen Trank bereitet, der ihn immer verjüngte;
aber trotz dieser großen Macht war er unglücklich über seine isolirte Stellung
innerhalb der Menschheit, und wurde endlich zum Selbstmord getrieben. Die
Wundergeschichten in diesem Roman häufen sich auf eine unverantwortliche Weise,
aber die Charakteristik derjenigen Personen, die weniger ans Uebernatürliche streifen,
namentlich Bethlen Gabors, ist vortrefflich. -- Dann folgte 1804 ?1cet^ova,
ol- ete new man ok keelmA, eine sociale Geschichte, zum Theil als Gegensatz
zu dem bekannten Buche von Mackenzie gearbeitet: die Darstellung einer Ehe,
die von beiden Seiten zu deu allergünstigsten Erwartungen zu berechtigen scheint,
denn es sind zwei gefühlvolle Personen zusammengekommen, die aber höchst un¬
glücklich ausfällt, weil das Uebermaß des Gesühls einen Egoismus versteckt, der


sie hart auf der Grenze zwischen dem Entsetzlichen und Lächerlichen stehlt Am
häßlichsten aber ist die trübe, alles Ideals entbehrende Stimmung, die sich
über das ganze Gemälde breitet, eine Stimmung, die wir auch bei den
neuesten englischen Novellisten wiederfinden, und die ihren ersten Grund in
einer sophistischen Moral hat. Falkland stellt einmal die Behauptung aus, die
Wahrheit und Gerechtigkeit seien nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der
Glückseligkeit, auf die sie berechnet seien, zu verehren, und die nämliche Ansicht
wird stillschweigend von allen betheiligten Personen und vom Verfasser selbst ge¬
hegt. Es ist das aber jene erste Lüge des klügelnden Verstandes, aus der alle
Unsittlichkeit entspringt. Daraus ist auch zu erkläre«, daß wir fast überall ein
sicheres Urtheil vermissen, ein Urtheil, welches nicht erst nöthig hat, sich weitläufig
auszusprechen, welches wir aber aus der ganzen Darstellung instinctartig heraus¬
fühlen wollen. Die Schändlichkeiten Falklands werden in einem Licht darge¬
stellt, das nicht darauf berechnet ist, unsren Abscheu, souderu unser Mitleid zu
erregen. Die Mischung von gut und böse in den wirklichen Charakteren ist
eine unbestreitbare Thatsache; allein die Poesie verkennt ihre Aufgabe, wenn sie
sich an den Materialismus der Thatsachen verkauft, anstatt mit ihrem unfehl¬
baren Licht die in der Wirklichkeit verbundenen Gegensätze von einander zu
scheiden. —

Im Jahre 1797 verheirathete sich Godwin mit Mary Wollstoncraft, einer
der ersten Frauen, welche in neuerer Zeit die Idee der Weiberemancipation ver¬
treten haben, und die durch ihre beiden Schriften: Vinäiealion ok et<z rig-Kts ok
>vomer, und die Retters trollt Nor^va^ bei dem einen Theil des Publicums
einen großen Ruf, bei dem andern, größern eine mit Erstannen gemischte Mi߬
billigung hervorgerufen hatte. Sie starb noch in demselben Jahre, nachdem sie
ihm eine Tochter geboren, die sich später mit Shelley verheirathete. Er verhei¬
rathete sich 1801 zum zweiten Male.

' Sein folgender Roman war 8awt l^con (1799), gewissermaßen ein Vorbild
zu NelmotQ. Der Held desselben war in den Besitz des Steines der Weisen
gekommen, und hatte außerdem einen Trank bereitet, der ihn immer verjüngte;
aber trotz dieser großen Macht war er unglücklich über seine isolirte Stellung
innerhalb der Menschheit, und wurde endlich zum Selbstmord getrieben. Die
Wundergeschichten in diesem Roman häufen sich auf eine unverantwortliche Weise,
aber die Charakteristik derjenigen Personen, die weniger ans Uebernatürliche streifen,
namentlich Bethlen Gabors, ist vortrefflich. — Dann folgte 1804 ?1cet^ova,
ol- ete new man ok keelmA, eine sociale Geschichte, zum Theil als Gegensatz
zu dem bekannten Buche von Mackenzie gearbeitet: die Darstellung einer Ehe,
die von beiden Seiten zu deu allergünstigsten Erwartungen zu berechtigen scheint,
denn es sind zwei gefühlvolle Personen zusammengekommen, die aber höchst un¬
glücklich ausfällt, weil das Uebermaß des Gesühls einen Egoismus versteckt, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/346>, abgerufen am 22.07.2024.