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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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urtheile seines politischen und religiösen Glaubens erhoben werden würde. Die
Anlagen dazu waren bei ihm in hohem Maße vorhanden.

Unter allen deutschen Dichtern der neuesten Zeit -- wir nehmen keinen
ans -- hat Gotthelf die größte Sicherheit im Charakteristiken. Er hat es nicht
nöthig, was heut zu Tage sast allgemein geschieht, sich seine Charaktere vorher
auszuklügeln, sie nach alleu Seiten hin zu durchforschen und sich jeden Augenblick
zu fragen, wie sie in dem bestimmten Fall sich benehmen müssen, um ihrer Anlage
getreu zu bleiben; sie gehen ihm vielmehr unmittelbar in ihrer Totalität aus, und
er kann sich unbefangen seiner Einbildungskraft überlassen, er wird nie vom
richtigen Wege abirren; nud zwar sind es nicht blasse Abstractionen irgend einer
Eigenschaft, die er darstellt, sondern concrete Menschen, mit einer Fülle des
Details, in der ihm nur Jean Paul und Dickens gleichkommen, während sie ihm,
in der Sicherheit des Blicks bedeutend nachstehen. Es ist lächerlich, wenn man
behauptet, er gebe nur Natnrzeichnungen und sei kein Dichter, sondern nur Re¬
ferent. Schon um eine solche Masse kleiner Züge zu sehen und energisch zu
empfinden, ist das Auge eiues echten Dichters nöthig. Aber Gotthelf zeichnet
mit derselben Sicherheit auch Situationen, die er unmöglich hat beobachten
können. Er weiß sich in gute, tüchtige, wenn auch einseitige und hartköpfige
Naturen jeder Art darum mit so großer Leichtigkeit zu versetzen, weil er selber
eine solche Natur ist. Der Reichthum des Gefühls, die Innigkeit der Empfindung
und dabei doch die Kälte und die behagliche Sicherheit des Verstandes und der
Eigensinn des Charakters, die er seinen Figuren leiht, hat er ans seiner eigenen
Seele geschöpft, und so quellen die einzelnen Züge mit wahrhaft poetischem Ueber¬
muth aus seiner Phantasie hervor. Kein edles Gefühl ist ihm fremd, und doch
hat ex ein ebeu so scharfes als mildes Auge für alle menschlichen Schwächen ;
seine kerngesunde Natur ist des leidenschaftlichsten Zornes mächtig, aber ihre
Grundlage ist jene unbefangene und mitunter ausgelassene Heiterkeit, die auch
mit dem Heiligsten humoristisch umzugehen weiß, in dem sichern Bewußtsein, sein
Wesen dadurch uicht zu verletzen. Das Alles sind herrliche poetische Gaben, und
es wäre an sich kein Hinderniß für die künstlerische Entwickelung, daß der Hori¬
zont, den er allein umfaßt, ziemlich enge begrenzt ist. Innerhalb desselben ist
noch so viel Leben, so viel freie Originalität und so viel feine Nuancen, daß
diejenige Form der Dichtung, der er sich hingegeben hat, innerhalb dieses Kreisen
deu reichsten Spielraum findet; ja, es ist ein Glück für ihn zu nennen, daß er
uicht, wie die meisten anderen Dichter seiner Zeit, dnrch künstliche Standpunkte
und durch Riesenteleskope seinen Horizont so erweitert hat, daß er die richtige Per-
spective verliert. Was nutzt es, die kühusten Hamlet- und Faust-Ideen durch einander
zu werfen, wenn man nicht die sichere eiserne Hand besitzt, aus dieser glänzende",
aber verworrenen Trümmermasse wieder ein selbstständiges Gebäude aufzurichten?

Wenden wir uns nun zu seinen Schattenseiten. Der Satz, daß die Sicher-


urtheile seines politischen und religiösen Glaubens erhoben werden würde. Die
Anlagen dazu waren bei ihm in hohem Maße vorhanden.

Unter allen deutschen Dichtern der neuesten Zeit — wir nehmen keinen
ans — hat Gotthelf die größte Sicherheit im Charakteristiken. Er hat es nicht
nöthig, was heut zu Tage sast allgemein geschieht, sich seine Charaktere vorher
auszuklügeln, sie nach alleu Seiten hin zu durchforschen und sich jeden Augenblick
zu fragen, wie sie in dem bestimmten Fall sich benehmen müssen, um ihrer Anlage
getreu zu bleiben; sie gehen ihm vielmehr unmittelbar in ihrer Totalität aus, und
er kann sich unbefangen seiner Einbildungskraft überlassen, er wird nie vom
richtigen Wege abirren; nud zwar sind es nicht blasse Abstractionen irgend einer
Eigenschaft, die er darstellt, sondern concrete Menschen, mit einer Fülle des
Details, in der ihm nur Jean Paul und Dickens gleichkommen, während sie ihm,
in der Sicherheit des Blicks bedeutend nachstehen. Es ist lächerlich, wenn man
behauptet, er gebe nur Natnrzeichnungen und sei kein Dichter, sondern nur Re¬
ferent. Schon um eine solche Masse kleiner Züge zu sehen und energisch zu
empfinden, ist das Auge eiues echten Dichters nöthig. Aber Gotthelf zeichnet
mit derselben Sicherheit auch Situationen, die er unmöglich hat beobachten
können. Er weiß sich in gute, tüchtige, wenn auch einseitige und hartköpfige
Naturen jeder Art darum mit so großer Leichtigkeit zu versetzen, weil er selber
eine solche Natur ist. Der Reichthum des Gefühls, die Innigkeit der Empfindung
und dabei doch die Kälte und die behagliche Sicherheit des Verstandes und der
Eigensinn des Charakters, die er seinen Figuren leiht, hat er ans seiner eigenen
Seele geschöpft, und so quellen die einzelnen Züge mit wahrhaft poetischem Ueber¬
muth aus seiner Phantasie hervor. Kein edles Gefühl ist ihm fremd, und doch
hat ex ein ebeu so scharfes als mildes Auge für alle menschlichen Schwächen ;
seine kerngesunde Natur ist des leidenschaftlichsten Zornes mächtig, aber ihre
Grundlage ist jene unbefangene und mitunter ausgelassene Heiterkeit, die auch
mit dem Heiligsten humoristisch umzugehen weiß, in dem sichern Bewußtsein, sein
Wesen dadurch uicht zu verletzen. Das Alles sind herrliche poetische Gaben, und
es wäre an sich kein Hinderniß für die künstlerische Entwickelung, daß der Hori¬
zont, den er allein umfaßt, ziemlich enge begrenzt ist. Innerhalb desselben ist
noch so viel Leben, so viel freie Originalität und so viel feine Nuancen, daß
diejenige Form der Dichtung, der er sich hingegeben hat, innerhalb dieses Kreisen
deu reichsten Spielraum findet; ja, es ist ein Glück für ihn zu nennen, daß er
uicht, wie die meisten anderen Dichter seiner Zeit, dnrch künstliche Standpunkte
und durch Riesenteleskope seinen Horizont so erweitert hat, daß er die richtige Per-
spective verliert. Was nutzt es, die kühusten Hamlet- und Faust-Ideen durch einander
zu werfen, wenn man nicht die sichere eiserne Hand besitzt, aus dieser glänzende«,
aber verworrenen Trümmermasse wieder ein selbstständiges Gebäude aufzurichten?

Wenden wir uns nun zu seinen Schattenseiten. Der Satz, daß die Sicher-


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[0288] urtheile seines politischen und religiösen Glaubens erhoben werden würde. Die Anlagen dazu waren bei ihm in hohem Maße vorhanden. Unter allen deutschen Dichtern der neuesten Zeit — wir nehmen keinen ans — hat Gotthelf die größte Sicherheit im Charakteristiken. Er hat es nicht nöthig, was heut zu Tage sast allgemein geschieht, sich seine Charaktere vorher auszuklügeln, sie nach alleu Seiten hin zu durchforschen und sich jeden Augenblick zu fragen, wie sie in dem bestimmten Fall sich benehmen müssen, um ihrer Anlage getreu zu bleiben; sie gehen ihm vielmehr unmittelbar in ihrer Totalität aus, und er kann sich unbefangen seiner Einbildungskraft überlassen, er wird nie vom richtigen Wege abirren; nud zwar sind es nicht blasse Abstractionen irgend einer Eigenschaft, die er darstellt, sondern concrete Menschen, mit einer Fülle des Details, in der ihm nur Jean Paul und Dickens gleichkommen, während sie ihm, in der Sicherheit des Blicks bedeutend nachstehen. Es ist lächerlich, wenn man behauptet, er gebe nur Natnrzeichnungen und sei kein Dichter, sondern nur Re¬ ferent. Schon um eine solche Masse kleiner Züge zu sehen und energisch zu empfinden, ist das Auge eiues echten Dichters nöthig. Aber Gotthelf zeichnet mit derselben Sicherheit auch Situationen, die er unmöglich hat beobachten können. Er weiß sich in gute, tüchtige, wenn auch einseitige und hartköpfige Naturen jeder Art darum mit so großer Leichtigkeit zu versetzen, weil er selber eine solche Natur ist. Der Reichthum des Gefühls, die Innigkeit der Empfindung und dabei doch die Kälte und die behagliche Sicherheit des Verstandes und der Eigensinn des Charakters, die er seinen Figuren leiht, hat er ans seiner eigenen Seele geschöpft, und so quellen die einzelnen Züge mit wahrhaft poetischem Ueber¬ muth aus seiner Phantasie hervor. Kein edles Gefühl ist ihm fremd, und doch hat ex ein ebeu so scharfes als mildes Auge für alle menschlichen Schwächen ; seine kerngesunde Natur ist des leidenschaftlichsten Zornes mächtig, aber ihre Grundlage ist jene unbefangene und mitunter ausgelassene Heiterkeit, die auch mit dem Heiligsten humoristisch umzugehen weiß, in dem sichern Bewußtsein, sein Wesen dadurch uicht zu verletzen. Das Alles sind herrliche poetische Gaben, und es wäre an sich kein Hinderniß für die künstlerische Entwickelung, daß der Hori¬ zont, den er allein umfaßt, ziemlich enge begrenzt ist. Innerhalb desselben ist noch so viel Leben, so viel freie Originalität und so viel feine Nuancen, daß diejenige Form der Dichtung, der er sich hingegeben hat, innerhalb dieses Kreisen deu reichsten Spielraum findet; ja, es ist ein Glück für ihn zu nennen, daß er uicht, wie die meisten anderen Dichter seiner Zeit, dnrch künstliche Standpunkte und durch Riesenteleskope seinen Horizont so erweitert hat, daß er die richtige Per- spective verliert. Was nutzt es, die kühusten Hamlet- und Faust-Ideen durch einander zu werfen, wenn man nicht die sichere eiserne Hand besitzt, aus dieser glänzende«, aber verworrenen Trümmermasse wieder ein selbstständiges Gebäude aufzurichten? Wenden wir uns nun zu seinen Schattenseiten. Der Satz, daß die Sicher-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/288>, abgerufen am 25.08.2024.