Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

besitzt und durch die Jahre der Finsterniß bewahrthat, wird,er doch immer allzu
sehr dem Verstand und der Ehrlichkeit Anderer vertrauen müssen, durch deren
Angen er den Stoff zu seinen Entschließungen einsammelt.

Die Berufung des Ministeriums Sehele machte überall im Lande den un¬
mittelbaren Eindruck, als sei es vorbei mit den Hoffnungen auf Einführung der
langerwarteten Organisationen und auf Vollziehung des Septembervertrags. Sogar
eine gewaltsame Aenderung des nachmärzlichen Theils der Verfassung lag nicht
außerhalb des Kreises von Befürchtungen, mit denen die Hannoveraner ihrer
neuen Regierung entgegenkamen. So vollständig schien der Umschwung, den der
Wechsel des Throns in den leitenden Grundsätzen der Verwaltung hervorgerufen
hatte. Aber diese äußerste Erwartung des Pessimismus ward weder durch eine
nachfolgende Handlung, noch durch irgend ein früheres oder späteres Wort der
Minister gerechtfertigt, und ist jetzt bis auf die letzte Spur verschwunden; aus¬
genommen höchstens in den Gemüthern derjenigen Politiker, welche grundsätzlich
nicht daran glauben, daß ein Ehrenmann in der Verfolgung seines persönlichen
oder politischen Vortheils durch die unsichtbare Schranke des Gesetzes wirksam
aufgehalten werdeu könne. Die Meinung verbreitet sich sogar, als seien die
Herren von Sehele und von der Decken gar nicht so bereitwillig/ sich auf den
gefälligen Bundestag zu stützen, wie ihre Antecedenzien und die Ernennung des
Canzleidirectors von Boehmer zum hannoverschen Gesandten und Stimmführer
in Frankfurt anfänglich erwarten ließ.

Zu den schon vereinbarten und längst zur Ausführung reifen Organisations¬
gesetzen sahen sich die neuen Minister von Anflug an in der übelsten Lage. Ihre
eigene politische Stellung, die bestimmtesten Erwartungen ihrer sämmtlichen An¬
hänger schienen es als eine nothwendige Folge, ja als eine stillschweigende Voraus¬
setzung ihrer Ernennung zu betrachten, daß die revolutionairen Schöpfungen
Stüve's und der Seinigen sofort beseitigt würden. Aber diesen Drängern gegen¬
über sprach sich die einmüthige Stimmung des ganzen Landes für die in Frage
gestellten Gesetze doch zu unzweideutig aus, als daß mau gewagt hätte, sie ohne
Weiteres in den Papierkorb zu werfen, den die deutsche Reichsverfassung von
1849 und die Grundrechte des deutschen Volks vor ihnen füllten. Zum Glück
ist Herr vou Sehele als Staatsmann nicht von jener bewundernswürdigen Ge¬
nialität, deren leichte Hand seit drei Jahren in Wien und Berlin, dem Anschein
nach nun auch in Paris, die europäischen Geschäfte betreibt; sondern eher von der
gründlichen und gewissenhaften Mittelmäßigkeit, für deren gelungenster Ausdruck
Robert Peel "bei seinen Lebzeiten angesehen ward. Er schob demnach nicht also-
bald bei Seite, was seinem persönlichen Geschmack nicht zusagte, sondern versuchte,
wie Vieles er aus gesetzmäßigem Weg, unter Zustimmung der Kammern, für
seine Wünsche erreichen konnte, während der vorliegende Stoff in seinen Bureaus
noch einmal von allen Seiten her geprüft ward.


besitzt und durch die Jahre der Finsterniß bewahrthat, wird,er doch immer allzu
sehr dem Verstand und der Ehrlichkeit Anderer vertrauen müssen, durch deren
Angen er den Stoff zu seinen Entschließungen einsammelt.

Die Berufung des Ministeriums Sehele machte überall im Lande den un¬
mittelbaren Eindruck, als sei es vorbei mit den Hoffnungen auf Einführung der
langerwarteten Organisationen und auf Vollziehung des Septembervertrags. Sogar
eine gewaltsame Aenderung des nachmärzlichen Theils der Verfassung lag nicht
außerhalb des Kreises von Befürchtungen, mit denen die Hannoveraner ihrer
neuen Regierung entgegenkamen. So vollständig schien der Umschwung, den der
Wechsel des Throns in den leitenden Grundsätzen der Verwaltung hervorgerufen
hatte. Aber diese äußerste Erwartung des Pessimismus ward weder durch eine
nachfolgende Handlung, noch durch irgend ein früheres oder späteres Wort der
Minister gerechtfertigt, und ist jetzt bis auf die letzte Spur verschwunden; aus¬
genommen höchstens in den Gemüthern derjenigen Politiker, welche grundsätzlich
nicht daran glauben, daß ein Ehrenmann in der Verfolgung seines persönlichen
oder politischen Vortheils durch die unsichtbare Schranke des Gesetzes wirksam
aufgehalten werdeu könne. Die Meinung verbreitet sich sogar, als seien die
Herren von Sehele und von der Decken gar nicht so bereitwillig/ sich auf den
gefälligen Bundestag zu stützen, wie ihre Antecedenzien und die Ernennung des
Canzleidirectors von Boehmer zum hannoverschen Gesandten und Stimmführer
in Frankfurt anfänglich erwarten ließ.

Zu den schon vereinbarten und längst zur Ausführung reifen Organisations¬
gesetzen sahen sich die neuen Minister von Anflug an in der übelsten Lage. Ihre
eigene politische Stellung, die bestimmtesten Erwartungen ihrer sämmtlichen An¬
hänger schienen es als eine nothwendige Folge, ja als eine stillschweigende Voraus¬
setzung ihrer Ernennung zu betrachten, daß die revolutionairen Schöpfungen
Stüve's und der Seinigen sofort beseitigt würden. Aber diesen Drängern gegen¬
über sprach sich die einmüthige Stimmung des ganzen Landes für die in Frage
gestellten Gesetze doch zu unzweideutig aus, als daß mau gewagt hätte, sie ohne
Weiteres in den Papierkorb zu werfen, den die deutsche Reichsverfassung von
1849 und die Grundrechte des deutschen Volks vor ihnen füllten. Zum Glück
ist Herr vou Sehele als Staatsmann nicht von jener bewundernswürdigen Ge¬
nialität, deren leichte Hand seit drei Jahren in Wien und Berlin, dem Anschein
nach nun auch in Paris, die europäischen Geschäfte betreibt; sondern eher von der
gründlichen und gewissenhaften Mittelmäßigkeit, für deren gelungenster Ausdruck
Robert Peel "bei seinen Lebzeiten angesehen ward. Er schob demnach nicht also-
bald bei Seite, was seinem persönlichen Geschmack nicht zusagte, sondern versuchte,
wie Vieles er aus gesetzmäßigem Weg, unter Zustimmung der Kammern, für
seine Wünsche erreichen konnte, während der vorliegende Stoff in seinen Bureaus
noch einmal von allen Seiten her geprüft ward.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0281" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93646"/>
          <p xml:id="ID_751" prev="#ID_750"> besitzt und durch die Jahre der Finsterniß bewahrthat, wird,er doch immer allzu<lb/>
sehr dem Verstand und der Ehrlichkeit Anderer vertrauen müssen, durch deren<lb/>
Angen er den Stoff zu seinen Entschließungen einsammelt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_752"> Die Berufung des Ministeriums Sehele machte überall im Lande den un¬<lb/>
mittelbaren Eindruck, als sei es vorbei mit den Hoffnungen auf Einführung der<lb/>
langerwarteten Organisationen und auf Vollziehung des Septembervertrags. Sogar<lb/>
eine gewaltsame Aenderung des nachmärzlichen Theils der Verfassung lag nicht<lb/>
außerhalb des Kreises von Befürchtungen, mit denen die Hannoveraner ihrer<lb/>
neuen Regierung entgegenkamen. So vollständig schien der Umschwung, den der<lb/>
Wechsel des Throns in den leitenden Grundsätzen der Verwaltung hervorgerufen<lb/>
hatte. Aber diese äußerste Erwartung des Pessimismus ward weder durch eine<lb/>
nachfolgende Handlung, noch durch irgend ein früheres oder späteres Wort der<lb/>
Minister gerechtfertigt, und ist jetzt bis auf die letzte Spur verschwunden; aus¬<lb/>
genommen höchstens in den Gemüthern derjenigen Politiker, welche grundsätzlich<lb/>
nicht daran glauben, daß ein Ehrenmann in der Verfolgung seines persönlichen<lb/>
oder politischen Vortheils durch die unsichtbare Schranke des Gesetzes wirksam<lb/>
aufgehalten werdeu könne. Die Meinung verbreitet sich sogar, als seien die<lb/>
Herren von Sehele und von der Decken gar nicht so bereitwillig/ sich auf den<lb/>
gefälligen Bundestag zu stützen, wie ihre Antecedenzien und die Ernennung des<lb/>
Canzleidirectors von Boehmer zum hannoverschen Gesandten und Stimmführer<lb/>
in Frankfurt anfänglich erwarten ließ.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_753"> Zu den schon vereinbarten und längst zur Ausführung reifen Organisations¬<lb/>
gesetzen sahen sich die neuen Minister von Anflug an in der übelsten Lage. Ihre<lb/>
eigene politische Stellung, die bestimmtesten Erwartungen ihrer sämmtlichen An¬<lb/>
hänger schienen es als eine nothwendige Folge, ja als eine stillschweigende Voraus¬<lb/>
setzung ihrer Ernennung zu betrachten, daß die revolutionairen Schöpfungen<lb/>
Stüve's und der Seinigen sofort beseitigt würden. Aber diesen Drängern gegen¬<lb/>
über sprach sich die einmüthige Stimmung des ganzen Landes für die in Frage<lb/>
gestellten Gesetze doch zu unzweideutig aus, als daß mau gewagt hätte, sie ohne<lb/>
Weiteres in den Papierkorb zu werfen, den die deutsche Reichsverfassung von<lb/>
1849 und die Grundrechte des deutschen Volks vor ihnen füllten. Zum Glück<lb/>
ist Herr vou Sehele als Staatsmann nicht von jener bewundernswürdigen Ge¬<lb/>
nialität, deren leichte Hand seit drei Jahren in Wien und Berlin, dem Anschein<lb/>
nach nun auch in Paris, die europäischen Geschäfte betreibt; sondern eher von der<lb/>
gründlichen und gewissenhaften Mittelmäßigkeit, für deren gelungenster Ausdruck<lb/>
Robert Peel "bei seinen Lebzeiten angesehen ward. Er schob demnach nicht also-<lb/>
bald bei Seite, was seinem persönlichen Geschmack nicht zusagte, sondern versuchte,<lb/>
wie Vieles er aus gesetzmäßigem Weg, unter Zustimmung der Kammern, für<lb/>
seine Wünsche erreichen konnte, während der vorliegende Stoff in seinen Bureaus<lb/>
noch einmal von allen Seiten her geprüft ward.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0281] besitzt und durch die Jahre der Finsterniß bewahrthat, wird,er doch immer allzu sehr dem Verstand und der Ehrlichkeit Anderer vertrauen müssen, durch deren Angen er den Stoff zu seinen Entschließungen einsammelt. Die Berufung des Ministeriums Sehele machte überall im Lande den un¬ mittelbaren Eindruck, als sei es vorbei mit den Hoffnungen auf Einführung der langerwarteten Organisationen und auf Vollziehung des Septembervertrags. Sogar eine gewaltsame Aenderung des nachmärzlichen Theils der Verfassung lag nicht außerhalb des Kreises von Befürchtungen, mit denen die Hannoveraner ihrer neuen Regierung entgegenkamen. So vollständig schien der Umschwung, den der Wechsel des Throns in den leitenden Grundsätzen der Verwaltung hervorgerufen hatte. Aber diese äußerste Erwartung des Pessimismus ward weder durch eine nachfolgende Handlung, noch durch irgend ein früheres oder späteres Wort der Minister gerechtfertigt, und ist jetzt bis auf die letzte Spur verschwunden; aus¬ genommen höchstens in den Gemüthern derjenigen Politiker, welche grundsätzlich nicht daran glauben, daß ein Ehrenmann in der Verfolgung seines persönlichen oder politischen Vortheils durch die unsichtbare Schranke des Gesetzes wirksam aufgehalten werdeu könne. Die Meinung verbreitet sich sogar, als seien die Herren von Sehele und von der Decken gar nicht so bereitwillig/ sich auf den gefälligen Bundestag zu stützen, wie ihre Antecedenzien und die Ernennung des Canzleidirectors von Boehmer zum hannoverschen Gesandten und Stimmführer in Frankfurt anfänglich erwarten ließ. Zu den schon vereinbarten und längst zur Ausführung reifen Organisations¬ gesetzen sahen sich die neuen Minister von Anflug an in der übelsten Lage. Ihre eigene politische Stellung, die bestimmtesten Erwartungen ihrer sämmtlichen An¬ hänger schienen es als eine nothwendige Folge, ja als eine stillschweigende Voraus¬ setzung ihrer Ernennung zu betrachten, daß die revolutionairen Schöpfungen Stüve's und der Seinigen sofort beseitigt würden. Aber diesen Drängern gegen¬ über sprach sich die einmüthige Stimmung des ganzen Landes für die in Frage gestellten Gesetze doch zu unzweideutig aus, als daß mau gewagt hätte, sie ohne Weiteres in den Papierkorb zu werfen, den die deutsche Reichsverfassung von 1849 und die Grundrechte des deutschen Volks vor ihnen füllten. Zum Glück ist Herr vou Sehele als Staatsmann nicht von jener bewundernswürdigen Ge¬ nialität, deren leichte Hand seit drei Jahren in Wien und Berlin, dem Anschein nach nun auch in Paris, die europäischen Geschäfte betreibt; sondern eher von der gründlichen und gewissenhaften Mittelmäßigkeit, für deren gelungenster Ausdruck Robert Peel "bei seinen Lebzeiten angesehen ward. Er schob demnach nicht also- bald bei Seite, was seinem persönlichen Geschmack nicht zusagte, sondern versuchte, wie Vieles er aus gesetzmäßigem Weg, unter Zustimmung der Kammern, für seine Wünsche erreichen konnte, während der vorliegende Stoff in seinen Bureaus noch einmal von allen Seiten her geprüft ward.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/281
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/281>, abgerufen am 25.08.2024.