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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Wehe dem wohlhabenden Reisenden auf einem Pferde oder auf einem
Maulesel, der damals in einsamer Gegend einer solchen Horde begegnete.
Vielleicht reist er von Sevilla nach Madrid, und die schauerlich wilden Schluchten
der Sierra Morena liegen schon geraume Zeit hinter ihm. Sein Herz, das
einige Zeit von unheimlichen Befürchtungen bedrückt war, wird leichter; das Blut,
das in seinen Adern gestockt har, fängt an wärmer und rascher zu kreisen; schon
denkt er mit stillem Genuß an die noch ferne Posada und den schmackhaften Eier¬
kuchen. Die Sonne sinkt schnell hinter dem wilden und zackigen Bergrücken
hinter ihm hinab; er hat die Sohle eines kleinen Thales erreicht, wo ein kleines
Bächlein rinnt, das seinem müden Thiere sich zu erfrischen erlaubt; er ist in Be¬
griff, den Abhang des Hügels zu ersteigen; seine Augen richten sich aufwärts;
plötzlich erblickt er fremdartige, wildmalerische Gestalten auf dem Nande der Höhe.
Die sinkende Sonne beleuchtet mit ihrem schrägen Strahle rothe Mäntel, einzelne
beturbante Häupter, unheilverkündende Gesichter mit schwarzen fliegenden Haaren.
Der Wanderer zögert einen Augenblick, aber er beruhigt sich bei dem Gedanken,
daß er sich nicht mehr im Gebirge befindet, und daß auf offener Landstraße keine
Gefahr von Räubern droht, und reitet weiter. In wenigen Augenblicken befindet
er sich in der Mitte der Zigeunerschaar, und im Nu tritt ein allgemeiner Halt
ein. Stechende Blicke heften sich auf den Eindringling mit einem Ausdrucke,
der nur in den Augen der Roma zu finden ist; dann entsteht ein Getatter in
einer Sprache, welche dem Ohre des Reisenden fremd klingt; endlich purzelt sich
ein häßliches koboldartiges Kind von der Kruppe eines hinkenden Maulthieres,
und spricht ihn im Namen der Jungfrau und des Majoro um eine Gabe an.
Mit zitternder Hand zieht der Wanderer seinen Beutel hervor, und will ihn auf¬
knüpfen, aber er erreicht seinen Zweck nicht, denn von ungesehener Hand mit
schwerem Knittel gewaltig getroffen, stürzt er mit zerschmettertem Schädel kopfüber
aus dem Sattel. Am nächsten Morgen findet ein Arriero einen nackten Leich¬
nam, mit Gehirn und Blut beschmiert, auf der Landstraße liegen; und nach acht
Tagen erinnert nur ein einfaches hölzernes Kreuz an der Wegseite an den trau¬
rigen Vorfall,

Die berüchtigtste That der Zigeuner in jenen ungeordneten Zeiten erzählt
eine noch hente im Munde des Volks befindliche schauerliche Sage, deren Kern
von unverdächtigen Geschichtschreibern bestätigt wird. Gegen Mitte des 16. Jahr¬
hunderts, berichtet diese Erzählung, wohnte in Logronno, der Hauptstadt der
Provinz Rioja, ein gewisser Francisco Alvarez. Er war ein Mann in mittleren
Jahren, mäßig, schweigsam und gewöhnlich in Gedanken versunken; er wohnte
neben der großen Kirche, und gewann sich seinen Lebensunterhalt dnrch den Ver¬
kauf von Büchern und Handschriften in einem kleinen Laden. Er war ein sehr
gelehrter Mann, und las fast beständig in den Büchern, welche er zu verkaufe"
hatte. Darunter befanden sich einige in unbekannter Sprache und Schrift, welche


Wehe dem wohlhabenden Reisenden auf einem Pferde oder auf einem
Maulesel, der damals in einsamer Gegend einer solchen Horde begegnete.
Vielleicht reist er von Sevilla nach Madrid, und die schauerlich wilden Schluchten
der Sierra Morena liegen schon geraume Zeit hinter ihm. Sein Herz, das
einige Zeit von unheimlichen Befürchtungen bedrückt war, wird leichter; das Blut,
das in seinen Adern gestockt har, fängt an wärmer und rascher zu kreisen; schon
denkt er mit stillem Genuß an die noch ferne Posada und den schmackhaften Eier¬
kuchen. Die Sonne sinkt schnell hinter dem wilden und zackigen Bergrücken
hinter ihm hinab; er hat die Sohle eines kleinen Thales erreicht, wo ein kleines
Bächlein rinnt, das seinem müden Thiere sich zu erfrischen erlaubt; er ist in Be¬
griff, den Abhang des Hügels zu ersteigen; seine Augen richten sich aufwärts;
plötzlich erblickt er fremdartige, wildmalerische Gestalten auf dem Nande der Höhe.
Die sinkende Sonne beleuchtet mit ihrem schrägen Strahle rothe Mäntel, einzelne
beturbante Häupter, unheilverkündende Gesichter mit schwarzen fliegenden Haaren.
Der Wanderer zögert einen Augenblick, aber er beruhigt sich bei dem Gedanken,
daß er sich nicht mehr im Gebirge befindet, und daß auf offener Landstraße keine
Gefahr von Räubern droht, und reitet weiter. In wenigen Augenblicken befindet
er sich in der Mitte der Zigeunerschaar, und im Nu tritt ein allgemeiner Halt
ein. Stechende Blicke heften sich auf den Eindringling mit einem Ausdrucke,
der nur in den Augen der Roma zu finden ist; dann entsteht ein Getatter in
einer Sprache, welche dem Ohre des Reisenden fremd klingt; endlich purzelt sich
ein häßliches koboldartiges Kind von der Kruppe eines hinkenden Maulthieres,
und spricht ihn im Namen der Jungfrau und des Majoro um eine Gabe an.
Mit zitternder Hand zieht der Wanderer seinen Beutel hervor, und will ihn auf¬
knüpfen, aber er erreicht seinen Zweck nicht, denn von ungesehener Hand mit
schwerem Knittel gewaltig getroffen, stürzt er mit zerschmettertem Schädel kopfüber
aus dem Sattel. Am nächsten Morgen findet ein Arriero einen nackten Leich¬
nam, mit Gehirn und Blut beschmiert, auf der Landstraße liegen; und nach acht
Tagen erinnert nur ein einfaches hölzernes Kreuz an der Wegseite an den trau¬
rigen Vorfall,

Die berüchtigtste That der Zigeuner in jenen ungeordneten Zeiten erzählt
eine noch hente im Munde des Volks befindliche schauerliche Sage, deren Kern
von unverdächtigen Geschichtschreibern bestätigt wird. Gegen Mitte des 16. Jahr¬
hunderts, berichtet diese Erzählung, wohnte in Logronno, der Hauptstadt der
Provinz Rioja, ein gewisser Francisco Alvarez. Er war ein Mann in mittleren
Jahren, mäßig, schweigsam und gewöhnlich in Gedanken versunken; er wohnte
neben der großen Kirche, und gewann sich seinen Lebensunterhalt dnrch den Ver¬
kauf von Büchern und Handschriften in einem kleinen Laden. Er war ein sehr
gelehrter Mann, und las fast beständig in den Büchern, welche er zu verkaufe«
hatte. Darunter befanden sich einige in unbekannter Sprache und Schrift, welche


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[0258] Wehe dem wohlhabenden Reisenden auf einem Pferde oder auf einem Maulesel, der damals in einsamer Gegend einer solchen Horde begegnete. Vielleicht reist er von Sevilla nach Madrid, und die schauerlich wilden Schluchten der Sierra Morena liegen schon geraume Zeit hinter ihm. Sein Herz, das einige Zeit von unheimlichen Befürchtungen bedrückt war, wird leichter; das Blut, das in seinen Adern gestockt har, fängt an wärmer und rascher zu kreisen; schon denkt er mit stillem Genuß an die noch ferne Posada und den schmackhaften Eier¬ kuchen. Die Sonne sinkt schnell hinter dem wilden und zackigen Bergrücken hinter ihm hinab; er hat die Sohle eines kleinen Thales erreicht, wo ein kleines Bächlein rinnt, das seinem müden Thiere sich zu erfrischen erlaubt; er ist in Be¬ griff, den Abhang des Hügels zu ersteigen; seine Augen richten sich aufwärts; plötzlich erblickt er fremdartige, wildmalerische Gestalten auf dem Nande der Höhe. Die sinkende Sonne beleuchtet mit ihrem schrägen Strahle rothe Mäntel, einzelne beturbante Häupter, unheilverkündende Gesichter mit schwarzen fliegenden Haaren. Der Wanderer zögert einen Augenblick, aber er beruhigt sich bei dem Gedanken, daß er sich nicht mehr im Gebirge befindet, und daß auf offener Landstraße keine Gefahr von Räubern droht, und reitet weiter. In wenigen Augenblicken befindet er sich in der Mitte der Zigeunerschaar, und im Nu tritt ein allgemeiner Halt ein. Stechende Blicke heften sich auf den Eindringling mit einem Ausdrucke, der nur in den Augen der Roma zu finden ist; dann entsteht ein Getatter in einer Sprache, welche dem Ohre des Reisenden fremd klingt; endlich purzelt sich ein häßliches koboldartiges Kind von der Kruppe eines hinkenden Maulthieres, und spricht ihn im Namen der Jungfrau und des Majoro um eine Gabe an. Mit zitternder Hand zieht der Wanderer seinen Beutel hervor, und will ihn auf¬ knüpfen, aber er erreicht seinen Zweck nicht, denn von ungesehener Hand mit schwerem Knittel gewaltig getroffen, stürzt er mit zerschmettertem Schädel kopfüber aus dem Sattel. Am nächsten Morgen findet ein Arriero einen nackten Leich¬ nam, mit Gehirn und Blut beschmiert, auf der Landstraße liegen; und nach acht Tagen erinnert nur ein einfaches hölzernes Kreuz an der Wegseite an den trau¬ rigen Vorfall, Die berüchtigtste That der Zigeuner in jenen ungeordneten Zeiten erzählt eine noch hente im Munde des Volks befindliche schauerliche Sage, deren Kern von unverdächtigen Geschichtschreibern bestätigt wird. Gegen Mitte des 16. Jahr¬ hunderts, berichtet diese Erzählung, wohnte in Logronno, der Hauptstadt der Provinz Rioja, ein gewisser Francisco Alvarez. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mäßig, schweigsam und gewöhnlich in Gedanken versunken; er wohnte neben der großen Kirche, und gewann sich seinen Lebensunterhalt dnrch den Ver¬ kauf von Büchern und Handschriften in einem kleinen Laden. Er war ein sehr gelehrter Mann, und las fast beständig in den Büchern, welche er zu verkaufe« hatte. Darunter befanden sich einige in unbekannter Sprache und Schrift, welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/258>, abgerufen am 22.07.2024.