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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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des Mahomed verwandelt; die hinter einander auftretenden Boten von den Nieder¬
lagen der Despotenknechte sind anch geblieben, und daß an Stelle des Chors
persischer Greise die gefangenen Sclavinnen aus der Hekuba getreten sind, ändert
an der Sache auch nicht viel. Ein sonderbarer Einfall ist es, den ewigen Juden
Ahasver, natürlich zu einer Abstraction idealisirt, auftreten und mit dem
Sultan über die Nichtigkeit aller stofflichen Erscheinungen Philosophiren zu lassen,
um so mehr, da diese Philosophie weder sehr neu uoch sehr tief ist. Z. B. "Nur
der Gedanke und seine schnellen Elemente, Wille, Leidenschaft, Vernunft, Phantasie,
können nicht sterben; sie sind, was das, was sie anschauen, erscheint, der Stoff,
ans welchem die Vergänglichkeit dasjenige webt, worüber sie Macht hat, Welten,
Würmer, Reiche und Religionen. Was hat der Gedanke mit der Zeit oder mit
dem Raume zu thun? u. s. w." Solche skeptische Gedanken passen eigentlich
nicht sehr zu einem Gedicht, in welchem sich doch historische Leidenschaften aus¬
sprechen sollen.

Die Hexe de.s Atlas (1820) ist ein reizendes Bild von der Macht der
Schönheit über alle Kräfte der Natur und des Lebens. Einzelne von den Schil¬
derungen sind sehr poetisch, z. B. von den Angen der Hexe: ,,tief wie zwei Oeff-
nungen von unergründlicher Nacht, die man dnrch die Spalte einer Wetterwolke
sieht u. s. w." Es ist Leben und Bewegung in diesem heitern Spiel der Phan¬
tasie, aber, wie immer bei Shelley, zu viel träumerisches Wesen, zu viel Farbe
und zu wenig Gestalt. Man hat von Zeit zu Zeit die Ahnung, als ob dieses
wunderbare Mädchen, das kommt, man weiß nicht woher, das allerlei thut, man
weiß uicht warum, irgeud eine symbolische Bedeutung haben könnte, und man
kann uicht unterlassen, sich über diese Bedeutuug zu beunruhigen. In einem
Elfen- und Feenmärchen verlangt man doch irgend einen geschichtlichen Fa¬
den; es muß irgend ein Ereigniß darin vorkommen, für dessen Ausgang man
sich interesstrt. Davon ist aber hier keine Rede, es sind bloße Bilder ohne
Gegenstand. Außerdem ist die Farbenmischung in diesen Bildern zuweilen
etwas zu romantisch. Daß das holde Mädchen Feuer und Schnee zu¬
sammenknetet, mag man sich gefallen lassen, aber daß sie diese widerstrebende
Mischung durch "flüssige Liebe" temperirt, um eiuen Hermaphroditen daraus
zu bilden, ist unerlaubt; eben so wenn sie in ihren Schleier anßer dem nöthi¬
gen Mondschein, deu Düften und dem Wetterleuchte" auch uoch die geheime
Sehnsucht des Herzens verwebt. Für einen leichten Scherz ist das Gedicht zu
weit ausgeführt, und schwerfällig. -- Sehr zart und sinnig, aber auch zu form¬
los, ist das Gedicht die Sensitive (1820). Im Garten steht unter vielen
anderen schönen Blumen eine reizende Sinnpflanze, diese geht aus und mit ihr
stirbt ein holdes Mädchen, die Fee des Gartens, und als Moral wird hinzugefügt:
"Eigentlich ist weder die Blume noch das Mädchen vergangen, nur wir haben
uns verändert. In diesem Leben von Irrthum, Unwissenheit und Streit, wo


des Mahomed verwandelt; die hinter einander auftretenden Boten von den Nieder¬
lagen der Despotenknechte sind anch geblieben, und daß an Stelle des Chors
persischer Greise die gefangenen Sclavinnen aus der Hekuba getreten sind, ändert
an der Sache auch nicht viel. Ein sonderbarer Einfall ist es, den ewigen Juden
Ahasver, natürlich zu einer Abstraction idealisirt, auftreten und mit dem
Sultan über die Nichtigkeit aller stofflichen Erscheinungen Philosophiren zu lassen,
um so mehr, da diese Philosophie weder sehr neu uoch sehr tief ist. Z. B. „Nur
der Gedanke und seine schnellen Elemente, Wille, Leidenschaft, Vernunft, Phantasie,
können nicht sterben; sie sind, was das, was sie anschauen, erscheint, der Stoff,
ans welchem die Vergänglichkeit dasjenige webt, worüber sie Macht hat, Welten,
Würmer, Reiche und Religionen. Was hat der Gedanke mit der Zeit oder mit
dem Raume zu thun? u. s. w." Solche skeptische Gedanken passen eigentlich
nicht sehr zu einem Gedicht, in welchem sich doch historische Leidenschaften aus¬
sprechen sollen.

Die Hexe de.s Atlas (1820) ist ein reizendes Bild von der Macht der
Schönheit über alle Kräfte der Natur und des Lebens. Einzelne von den Schil¬
derungen sind sehr poetisch, z. B. von den Angen der Hexe: ,,tief wie zwei Oeff-
nungen von unergründlicher Nacht, die man dnrch die Spalte einer Wetterwolke
sieht u. s. w." Es ist Leben und Bewegung in diesem heitern Spiel der Phan¬
tasie, aber, wie immer bei Shelley, zu viel träumerisches Wesen, zu viel Farbe
und zu wenig Gestalt. Man hat von Zeit zu Zeit die Ahnung, als ob dieses
wunderbare Mädchen, das kommt, man weiß nicht woher, das allerlei thut, man
weiß uicht warum, irgeud eine symbolische Bedeutung haben könnte, und man
kann uicht unterlassen, sich über diese Bedeutuug zu beunruhigen. In einem
Elfen- und Feenmärchen verlangt man doch irgend einen geschichtlichen Fa¬
den; es muß irgend ein Ereigniß darin vorkommen, für dessen Ausgang man
sich interesstrt. Davon ist aber hier keine Rede, es sind bloße Bilder ohne
Gegenstand. Außerdem ist die Farbenmischung in diesen Bildern zuweilen
etwas zu romantisch. Daß das holde Mädchen Feuer und Schnee zu¬
sammenknetet, mag man sich gefallen lassen, aber daß sie diese widerstrebende
Mischung durch „flüssige Liebe" temperirt, um eiuen Hermaphroditen daraus
zu bilden, ist unerlaubt; eben so wenn sie in ihren Schleier anßer dem nöthi¬
gen Mondschein, deu Düften und dem Wetterleuchte« auch uoch die geheime
Sehnsucht des Herzens verwebt. Für einen leichten Scherz ist das Gedicht zu
weit ausgeführt, und schwerfällig. — Sehr zart und sinnig, aber auch zu form¬
los, ist das Gedicht die Sensitive (1820). Im Garten steht unter vielen
anderen schönen Blumen eine reizende Sinnpflanze, diese geht aus und mit ihr
stirbt ein holdes Mädchen, die Fee des Gartens, und als Moral wird hinzugefügt:
„Eigentlich ist weder die Blume noch das Mädchen vergangen, nur wir haben
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[0183] des Mahomed verwandelt; die hinter einander auftretenden Boten von den Nieder¬ lagen der Despotenknechte sind anch geblieben, und daß an Stelle des Chors persischer Greise die gefangenen Sclavinnen aus der Hekuba getreten sind, ändert an der Sache auch nicht viel. Ein sonderbarer Einfall ist es, den ewigen Juden Ahasver, natürlich zu einer Abstraction idealisirt, auftreten und mit dem Sultan über die Nichtigkeit aller stofflichen Erscheinungen Philosophiren zu lassen, um so mehr, da diese Philosophie weder sehr neu uoch sehr tief ist. Z. B. „Nur der Gedanke und seine schnellen Elemente, Wille, Leidenschaft, Vernunft, Phantasie, können nicht sterben; sie sind, was das, was sie anschauen, erscheint, der Stoff, ans welchem die Vergänglichkeit dasjenige webt, worüber sie Macht hat, Welten, Würmer, Reiche und Religionen. Was hat der Gedanke mit der Zeit oder mit dem Raume zu thun? u. s. w." Solche skeptische Gedanken passen eigentlich nicht sehr zu einem Gedicht, in welchem sich doch historische Leidenschaften aus¬ sprechen sollen. Die Hexe de.s Atlas (1820) ist ein reizendes Bild von der Macht der Schönheit über alle Kräfte der Natur und des Lebens. Einzelne von den Schil¬ derungen sind sehr poetisch, z. B. von den Angen der Hexe: ,,tief wie zwei Oeff- nungen von unergründlicher Nacht, die man dnrch die Spalte einer Wetterwolke sieht u. s. w." Es ist Leben und Bewegung in diesem heitern Spiel der Phan¬ tasie, aber, wie immer bei Shelley, zu viel träumerisches Wesen, zu viel Farbe und zu wenig Gestalt. Man hat von Zeit zu Zeit die Ahnung, als ob dieses wunderbare Mädchen, das kommt, man weiß nicht woher, das allerlei thut, man weiß uicht warum, irgeud eine symbolische Bedeutung haben könnte, und man kann uicht unterlassen, sich über diese Bedeutuug zu beunruhigen. In einem Elfen- und Feenmärchen verlangt man doch irgend einen geschichtlichen Fa¬ den; es muß irgend ein Ereigniß darin vorkommen, für dessen Ausgang man sich interesstrt. Davon ist aber hier keine Rede, es sind bloße Bilder ohne Gegenstand. Außerdem ist die Farbenmischung in diesen Bildern zuweilen etwas zu romantisch. Daß das holde Mädchen Feuer und Schnee zu¬ sammenknetet, mag man sich gefallen lassen, aber daß sie diese widerstrebende Mischung durch „flüssige Liebe" temperirt, um eiuen Hermaphroditen daraus zu bilden, ist unerlaubt; eben so wenn sie in ihren Schleier anßer dem nöthi¬ gen Mondschein, deu Düften und dem Wetterleuchte« auch uoch die geheime Sehnsucht des Herzens verwebt. Für einen leichten Scherz ist das Gedicht zu weit ausgeführt, und schwerfällig. — Sehr zart und sinnig, aber auch zu form¬ los, ist das Gedicht die Sensitive (1820). Im Garten steht unter vielen anderen schönen Blumen eine reizende Sinnpflanze, diese geht aus und mit ihr stirbt ein holdes Mädchen, die Fee des Gartens, und als Moral wird hinzugefügt: „Eigentlich ist weder die Blume noch das Mädchen vergangen, nur wir haben uns verändert. In diesem Leben von Irrthum, Unwissenheit und Streit, wo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/183>, abgerufen am 22.07.2024.