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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Füße küssen und ihren Feinden um den Hals fallen. Zum Ueberfluß noch eine
Heroine, die von Zeit zu Zeit im Augenblick der Gefahr auf wildem Roß in die
Schlacht daherbraust, und ihren Liebling rettet, mit dem sie in Bergpredigten über
die allgemeine Gleichheit der Menschen, über die Emancipation der Weiber ze.
wetteifert. Wenn loir also von diesen Reden absehen, in denen der eigentliche
Inhalt des Gedichts, das Evangelium der absoluten Freiheit, Gleichheit und Brü¬
derlichkeit gepredigt wird, so haben wir eine Reihe von Nebelbildern und Visionen,
die körperlos in einander fließen. Man glaubt sich in Hegel's Phänomenologie
versetzt, in welcher gleichfalls bloßen Abstractionen der Schein der Bewegung und
des Lebens verliehen wird, oder auch in die Apokalypse eines neuen Propheten,
dessen Phantasie aber nicht ausreicht, seine Farben zu einem so grellen Con¬
trast gegenüberzustellen, daß sie wenigstens den Schein von Gestaltung an¬
nehmen.

Daß Shelley wenigstens im Ganzen das orientalische Costum gewählt hat,
lag in der allgemeinen Richtung der Zeit. Die Phantasie sehnte sich aus dem
engen Kreise der englischen Wirthshäuser und Pächterwohuuugeu heraus, und
nichts war ihr willkommener, als die fremdartige Welt des Morgenlandes, in der
die Willkür ein souveraines Spiel treiben konnte. Wir haben bereits die Versuche
Thomas Moore's charakterisirt; wir führen hier ein Gedicht von Robert Sou-
they an: den Fluch des Kehamci (1810), das in seiner Art eben so chaotisch
ist, wie die Empörung des Islam, aber nicht um der Idee, sondern um der
Farbe willen. Wenn die anderen Dichter darauf ausgingen, die allgemein mensch¬
lichen Seiten des orientalischen Lebens herauszufühlen, und sie mit dem abend¬
ländischen Wesen zu vermitteln, so stellt sich Southey die umgekehrte Aufgabe,
nämlich der orientalischen Ueberschwänglichkeit in ihrer ausschweifendsten Form,
wie sie in der indischen Mythologie zur Erscheinung gekommen ist, einen Aus¬
druck zu verschaffen. In der Einleitung verwahrt er sich gegen die Pedanten,
welche sich bemühen, den Strom der Phantasie ans das Maß des Möglichen
und des Natürlichen einzuschränken, und der Inhalt seines Gedichtes ist .von der
Art, daß nicht blos die altenglischen Klassiker über seine Kühnheit erstaunen
würden. Kehamci ist ein indischer Büßer, welcher nach der indischen Vorstellung,
daß man- durch jede religiöse Andacht sich eine gewaltige Macht über die Menschen,
die Elemente und die Geister erwirbt, es allmählich dahin gebracht hat, daß er
nicht blos aus Erden allmächtig ist, sondern anch schon eine ganze Reihe von
Göttern sich dienstbar gemacht hat. Jene Andachtsübungen sind nicht ans einem
religiösen Gemüth entsprungen, sondern aus menschenfeindlichen Ehrgeiz, und die
Götter haben sie nicht mit Wohlwollen ausgenommen, sondern mit Furcht und
Entsetzen. Dieser halb allmächtige Tyrann hat seinen Sohn Arvadcm verloren,
der ein schönes Mädchen, Kailyal, nothzüchtigen wollte, und darum von ihrem
Vater Ladurlad erschlage" wurde. Die Scene wird mit der prächtig geschilderten


Füße küssen und ihren Feinden um den Hals fallen. Zum Ueberfluß noch eine
Heroine, die von Zeit zu Zeit im Augenblick der Gefahr auf wildem Roß in die
Schlacht daherbraust, und ihren Liebling rettet, mit dem sie in Bergpredigten über
die allgemeine Gleichheit der Menschen, über die Emancipation der Weiber ze.
wetteifert. Wenn loir also von diesen Reden absehen, in denen der eigentliche
Inhalt des Gedichts, das Evangelium der absoluten Freiheit, Gleichheit und Brü¬
derlichkeit gepredigt wird, so haben wir eine Reihe von Nebelbildern und Visionen,
die körperlos in einander fließen. Man glaubt sich in Hegel's Phänomenologie
versetzt, in welcher gleichfalls bloßen Abstractionen der Schein der Bewegung und
des Lebens verliehen wird, oder auch in die Apokalypse eines neuen Propheten,
dessen Phantasie aber nicht ausreicht, seine Farben zu einem so grellen Con¬
trast gegenüberzustellen, daß sie wenigstens den Schein von Gestaltung an¬
nehmen.

Daß Shelley wenigstens im Ganzen das orientalische Costum gewählt hat,
lag in der allgemeinen Richtung der Zeit. Die Phantasie sehnte sich aus dem
engen Kreise der englischen Wirthshäuser und Pächterwohuuugeu heraus, und
nichts war ihr willkommener, als die fremdartige Welt des Morgenlandes, in der
die Willkür ein souveraines Spiel treiben konnte. Wir haben bereits die Versuche
Thomas Moore's charakterisirt; wir führen hier ein Gedicht von Robert Sou-
they an: den Fluch des Kehamci (1810), das in seiner Art eben so chaotisch
ist, wie die Empörung des Islam, aber nicht um der Idee, sondern um der
Farbe willen. Wenn die anderen Dichter darauf ausgingen, die allgemein mensch¬
lichen Seiten des orientalischen Lebens herauszufühlen, und sie mit dem abend¬
ländischen Wesen zu vermitteln, so stellt sich Southey die umgekehrte Aufgabe,
nämlich der orientalischen Ueberschwänglichkeit in ihrer ausschweifendsten Form,
wie sie in der indischen Mythologie zur Erscheinung gekommen ist, einen Aus¬
druck zu verschaffen. In der Einleitung verwahrt er sich gegen die Pedanten,
welche sich bemühen, den Strom der Phantasie ans das Maß des Möglichen
und des Natürlichen einzuschränken, und der Inhalt seines Gedichtes ist .von der
Art, daß nicht blos die altenglischen Klassiker über seine Kühnheit erstaunen
würden. Kehamci ist ein indischer Büßer, welcher nach der indischen Vorstellung,
daß man- durch jede religiöse Andacht sich eine gewaltige Macht über die Menschen,
die Elemente und die Geister erwirbt, es allmählich dahin gebracht hat, daß er
nicht blos aus Erden allmächtig ist, sondern anch schon eine ganze Reihe von
Göttern sich dienstbar gemacht hat. Jene Andachtsübungen sind nicht ans einem
religiösen Gemüth entsprungen, sondern aus menschenfeindlichen Ehrgeiz, und die
Götter haben sie nicht mit Wohlwollen ausgenommen, sondern mit Furcht und
Entsetzen. Dieser halb allmächtige Tyrann hat seinen Sohn Arvadcm verloren,
der ein schönes Mädchen, Kailyal, nothzüchtigen wollte, und darum von ihrem
Vater Ladurlad erschlage» wurde. Die Scene wird mit der prächtig geschilderten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/178>, abgerufen am 22.07.2024.