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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Berechtigung geben kann, die Originalität und Tiefe der einzelnen Gedanken und
die Gluth und Energie der lyrischen Stellen, ist zwar vorhanden, aber doch nickt
in dem Grade, daß es uns mit dem gestaltlosen Schattenspiel versöhnen könnte.

Eine eben so trübe Dämmerung breitet sich über Shelley's größtes episches
Gedicht: Die Empörung des Islam (1817). Das Gedicht enthält zwölf
Gesänge, die in der Spencerstanze gehalten sind; wenn man sie aber durchge-
lesen .hat, so fragt man sich vergebens, was eigentlich der Inhalt sei. Nicht ein¬
mal von dem auf dein Titel angekündigten Islam ist die Rede, obgleich man
wol merkt, daß eine orientalische Localfarbe wenigstens beabsichtigt ist; die
Sehnsucht uach dem freien Amerika, die einem von den Bekennern in den Mund
gelegt wird, stimmt wenig zu eiuer muhamedanischen Geschichte. In der Vorrede
giebt Shelley folgenden Zweck an: Es soll erzählend, nicht didaktisch sein; eine
Reihe von Gemälden, welche die Erzeugung und den Fortschritt des individuellen
Geistes darstellen, der uach Auszeichnung strebt und von der Liebe zur Mensch¬
heit erfüllt ist, seinen Einfluß in der Veredelung und Läuterung der kühnsten
und ungewöhnlichsten Impulse der Einbildungskraft, des Verstandes und der
Sinne, seinen Zorn gegen alles Unrecht, das unter der Sonne geschieht, sein erfolg¬
reiches Streben, in dem Volk die Hoffnung eines bessern Zustandes zu erwecken,
das Erwachen einer unermeßlichen Nation von entehrender Sklaverei zu einem
richtigen Gefühl der moralischen Würde und Freiheit, die unblutige Entthronung
der Unterdrücker und die Enthüllung des religiösen Trugs, mit dem sie die Men¬
schen berückt haben, das Paradies eines philosophischen Gemeinwesens, in welchem
das Böse nicht mehr Gegenstand des Hasses und der Strafe, sondern des Mit¬
leids und der Erbarmung ist, die treulose Verschwörung sämmtlicher Weltherrscher
zur Wiederherstellung des Unrechts, die Niedermetzelung der Patrioten und die
Herstellung der Tyrannei, die Folgen des legitimen Despotismus, Hungersnoth,
Pest, Aberglaube, eine vollständige Depravation der sittlichen Empfindung u. s. w.
mit der Ahnung von der Ewigkeit der Tugend, die endlich dieser bösen Welt den
Untergang bereiten muß. Das Gedicht hat den ausgesprochenes! Zweck, den pa¬
nischen Schrecken, der aus den Ausschweifungen der französischen Revolution her¬
vorging, aufzuheben, und die Idee der Freiheit wieder als das reine Engelbild
darzustellen, als welches sie die früheren Zeiten verehrten -- Zur Ausführung
dieses löblichen Zwecks ist ein ganz abstracter Tyrann geschildert, ohne zeitliche
oder locale Bestimmtheit, ohne eine andere Eigenschaft, als den Haß des Guten
und die Liebe zum Bösen. Neben ihm die bekannten fratzenhaften Priester- und
Soldatengestalten; ihm gegenüber ein Jüngling, das eben so eigenschaftslose Bild
der absoluten Humanität, der an der Spitze des empörten Volks steht, aber nicht
mit dem Schwert, sondern mit dem Stab des Friedens, der vor Anfang der
Schlacht, wie Christus in der Bergpredigt, seinen Kriegern eine rührende Rede
über Mitleid und Erbarmen hält, und sie auch so bekehrt, daß sie weinend seine


Berechtigung geben kann, die Originalität und Tiefe der einzelnen Gedanken und
die Gluth und Energie der lyrischen Stellen, ist zwar vorhanden, aber doch nickt
in dem Grade, daß es uns mit dem gestaltlosen Schattenspiel versöhnen könnte.

Eine eben so trübe Dämmerung breitet sich über Shelley's größtes episches
Gedicht: Die Empörung des Islam (1817). Das Gedicht enthält zwölf
Gesänge, die in der Spencerstanze gehalten sind; wenn man sie aber durchge-
lesen .hat, so fragt man sich vergebens, was eigentlich der Inhalt sei. Nicht ein¬
mal von dem auf dein Titel angekündigten Islam ist die Rede, obgleich man
wol merkt, daß eine orientalische Localfarbe wenigstens beabsichtigt ist; die
Sehnsucht uach dem freien Amerika, die einem von den Bekennern in den Mund
gelegt wird, stimmt wenig zu eiuer muhamedanischen Geschichte. In der Vorrede
giebt Shelley folgenden Zweck an: Es soll erzählend, nicht didaktisch sein; eine
Reihe von Gemälden, welche die Erzeugung und den Fortschritt des individuellen
Geistes darstellen, der uach Auszeichnung strebt und von der Liebe zur Mensch¬
heit erfüllt ist, seinen Einfluß in der Veredelung und Läuterung der kühnsten
und ungewöhnlichsten Impulse der Einbildungskraft, des Verstandes und der
Sinne, seinen Zorn gegen alles Unrecht, das unter der Sonne geschieht, sein erfolg¬
reiches Streben, in dem Volk die Hoffnung eines bessern Zustandes zu erwecken,
das Erwachen einer unermeßlichen Nation von entehrender Sklaverei zu einem
richtigen Gefühl der moralischen Würde und Freiheit, die unblutige Entthronung
der Unterdrücker und die Enthüllung des religiösen Trugs, mit dem sie die Men¬
schen berückt haben, das Paradies eines philosophischen Gemeinwesens, in welchem
das Böse nicht mehr Gegenstand des Hasses und der Strafe, sondern des Mit¬
leids und der Erbarmung ist, die treulose Verschwörung sämmtlicher Weltherrscher
zur Wiederherstellung des Unrechts, die Niedermetzelung der Patrioten und die
Herstellung der Tyrannei, die Folgen des legitimen Despotismus, Hungersnoth,
Pest, Aberglaube, eine vollständige Depravation der sittlichen Empfindung u. s. w.
mit der Ahnung von der Ewigkeit der Tugend, die endlich dieser bösen Welt den
Untergang bereiten muß. Das Gedicht hat den ausgesprochenes! Zweck, den pa¬
nischen Schrecken, der aus den Ausschweifungen der französischen Revolution her¬
vorging, aufzuheben, und die Idee der Freiheit wieder als das reine Engelbild
darzustellen, als welches sie die früheren Zeiten verehrten — Zur Ausführung
dieses löblichen Zwecks ist ein ganz abstracter Tyrann geschildert, ohne zeitliche
oder locale Bestimmtheit, ohne eine andere Eigenschaft, als den Haß des Guten
und die Liebe zum Bösen. Neben ihm die bekannten fratzenhaften Priester- und
Soldatengestalten; ihm gegenüber ein Jüngling, das eben so eigenschaftslose Bild
der absoluten Humanität, der an der Spitze des empörten Volks steht, aber nicht
mit dem Schwert, sondern mit dem Stab des Friedens, der vor Anfang der
Schlacht, wie Christus in der Bergpredigt, seinen Kriegern eine rührende Rede
über Mitleid und Erbarmen hält, und sie auch so bekehrt, daß sie weinend seine


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[0177] Berechtigung geben kann, die Originalität und Tiefe der einzelnen Gedanken und die Gluth und Energie der lyrischen Stellen, ist zwar vorhanden, aber doch nickt in dem Grade, daß es uns mit dem gestaltlosen Schattenspiel versöhnen könnte. Eine eben so trübe Dämmerung breitet sich über Shelley's größtes episches Gedicht: Die Empörung des Islam (1817). Das Gedicht enthält zwölf Gesänge, die in der Spencerstanze gehalten sind; wenn man sie aber durchge- lesen .hat, so fragt man sich vergebens, was eigentlich der Inhalt sei. Nicht ein¬ mal von dem auf dein Titel angekündigten Islam ist die Rede, obgleich man wol merkt, daß eine orientalische Localfarbe wenigstens beabsichtigt ist; die Sehnsucht uach dem freien Amerika, die einem von den Bekennern in den Mund gelegt wird, stimmt wenig zu eiuer muhamedanischen Geschichte. In der Vorrede giebt Shelley folgenden Zweck an: Es soll erzählend, nicht didaktisch sein; eine Reihe von Gemälden, welche die Erzeugung und den Fortschritt des individuellen Geistes darstellen, der uach Auszeichnung strebt und von der Liebe zur Mensch¬ heit erfüllt ist, seinen Einfluß in der Veredelung und Läuterung der kühnsten und ungewöhnlichsten Impulse der Einbildungskraft, des Verstandes und der Sinne, seinen Zorn gegen alles Unrecht, das unter der Sonne geschieht, sein erfolg¬ reiches Streben, in dem Volk die Hoffnung eines bessern Zustandes zu erwecken, das Erwachen einer unermeßlichen Nation von entehrender Sklaverei zu einem richtigen Gefühl der moralischen Würde und Freiheit, die unblutige Entthronung der Unterdrücker und die Enthüllung des religiösen Trugs, mit dem sie die Men¬ schen berückt haben, das Paradies eines philosophischen Gemeinwesens, in welchem das Böse nicht mehr Gegenstand des Hasses und der Strafe, sondern des Mit¬ leids und der Erbarmung ist, die treulose Verschwörung sämmtlicher Weltherrscher zur Wiederherstellung des Unrechts, die Niedermetzelung der Patrioten und die Herstellung der Tyrannei, die Folgen des legitimen Despotismus, Hungersnoth, Pest, Aberglaube, eine vollständige Depravation der sittlichen Empfindung u. s. w. mit der Ahnung von der Ewigkeit der Tugend, die endlich dieser bösen Welt den Untergang bereiten muß. Das Gedicht hat den ausgesprochenes! Zweck, den pa¬ nischen Schrecken, der aus den Ausschweifungen der französischen Revolution her¬ vorging, aufzuheben, und die Idee der Freiheit wieder als das reine Engelbild darzustellen, als welches sie die früheren Zeiten verehrten — Zur Ausführung dieses löblichen Zwecks ist ein ganz abstracter Tyrann geschildert, ohne zeitliche oder locale Bestimmtheit, ohne eine andere Eigenschaft, als den Haß des Guten und die Liebe zum Bösen. Neben ihm die bekannten fratzenhaften Priester- und Soldatengestalten; ihm gegenüber ein Jüngling, das eben so eigenschaftslose Bild der absoluten Humanität, der an der Spitze des empörten Volks steht, aber nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Stab des Friedens, der vor Anfang der Schlacht, wie Christus in der Bergpredigt, seinen Kriegern eine rührende Rede über Mitleid und Erbarmen hält, und sie auch so bekehrt, daß sie weinend seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/177>, abgerufen am 22.07.2024.