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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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einer Religion zusammensetzen soll, welche den Selbstmord verbietet, den Vatermord
erlaubt, und die dem verhärteten Verbrecher, der sich selbst zuweilen mit dem Teufel
identistcirt, den Wahn einflößt, Gott werde sich zum Ausführer seiner Verwünschungen
hergeben, ist schwer zu sagen, wenn man nicht etwa annehmen will, das Ganze
solle eine Satyre gegen die katholische Religion überhaupt sein, welche allein
einen so greuelvollen Zustand möglich mache. Allein das ist dann wieder zu
wenig ausgesprochen, und wir müssen uns mit der Meinung begnügen, der Dichter
sei mehr von seinen Phantasien bestimmt worden, als daß er sie zu einem be¬
wußten Zweck hingeleitet habe. Vollends unerklärlich ist uus aber der Schluß
des Drama's. Der Mord ist^ am Vater vollzogen, in demselben Augenblicke
dringen Gerichtsdiener ins Haus, und nehmen die Schuldige gefangen. Da nun
diese Gerichtsdiener den Zweck haben, den alten Cenci der Gerechtigkeit zu über¬
liefern, die sich endlich ermannt , hat, so wäre Beatrice überführt, daß ihre
That, wodurch sie der göttlichen Rache Vorgriff, eine überflüssige gewesen ist, und
das Stück könnte damit schließen; allein es folgt noch ein ganzer Act, in welchem
der Proceß geschildert wird. Während die Uebrigen gestehen, läugnet Beatrice
beharrlich die That, obgleich sie aus dem gerechten Haß gegen ihren Vater kein
Hehl macht, und läßt sich schließlich nur durch die Furcht vor der Folter zum
Geständnis; bewegen. So wenig wir diese Handlungsweise begreifen, so wenig
wird uus die Reue der übrigen Familie klar, und so haben wir einen ganz
lahmen Schluß, der aus ein zweckloses Jntriguenspiel herauskommt.

Was die Ausführung betrifft, so erhebt sich die Phantasie in einzelnen
Scenen zu einem wirklichen Aufschwung, der freilich an Trunkenheit grenzt, aber
doch nicht unpoetisch genannt werden kann. Die zu weit getriebene Reflexion,
die bei den meisten englischen Dramatikern den Lauf der Handlung stört, ist auch
hier vorhanden; im Allgemeinen aber möchte der Einfluß Calderon's vorherrschend
sein, mit dem sich Shelley damals sehr eifrig beschäftigte, und man könnte das
Stück als einen Versuch betrachten, die unheimlichen Geschichten, die bei dem
katholischen Dichter, trotz seiner wilden Phantasie mit einer gewissen Naivetät
auftreten, der protestantischen Reflexion verständlich zu macheu. -- Auffallend sind
einige Reminiscenzen aus Shakspeare; namentlich ist die Scene aus dem Morde
des Duncan fast wörtlich ausgeschrieben.

Das nächste Stück, auf das wir übergehen, ist der entfesselte Prome¬
theus (1819). Die Tragödie des Aeschylus hat mehreren unsrer neueren Dichter,
die'ihrem Idealismus nur durch überschwängliche Motive gerecht werden konnten,
zu lyrischen und dramatischen Versuchen Veranlassung gegeben. Sie gehört auch
in ihrer Anlage in der That zu dem Merkwürdigsten, was nus die Poesie des
Alterthums überliefert hat. Daß der höchste Gott uicht blos Unrecht thut, son¬
dern daß auch die Möglichkeit seines eigenen Untergangs wie ein Damoklesschwert
über seinem Haupte schwebt, widerstrebt so allen unsren Begriffen und Empfin-


einer Religion zusammensetzen soll, welche den Selbstmord verbietet, den Vatermord
erlaubt, und die dem verhärteten Verbrecher, der sich selbst zuweilen mit dem Teufel
identistcirt, den Wahn einflößt, Gott werde sich zum Ausführer seiner Verwünschungen
hergeben, ist schwer zu sagen, wenn man nicht etwa annehmen will, das Ganze
solle eine Satyre gegen die katholische Religion überhaupt sein, welche allein
einen so greuelvollen Zustand möglich mache. Allein das ist dann wieder zu
wenig ausgesprochen, und wir müssen uns mit der Meinung begnügen, der Dichter
sei mehr von seinen Phantasien bestimmt worden, als daß er sie zu einem be¬
wußten Zweck hingeleitet habe. Vollends unerklärlich ist uus aber der Schluß
des Drama's. Der Mord ist^ am Vater vollzogen, in demselben Augenblicke
dringen Gerichtsdiener ins Haus, und nehmen die Schuldige gefangen. Da nun
diese Gerichtsdiener den Zweck haben, den alten Cenci der Gerechtigkeit zu über¬
liefern, die sich endlich ermannt , hat, so wäre Beatrice überführt, daß ihre
That, wodurch sie der göttlichen Rache Vorgriff, eine überflüssige gewesen ist, und
das Stück könnte damit schließen; allein es folgt noch ein ganzer Act, in welchem
der Proceß geschildert wird. Während die Uebrigen gestehen, läugnet Beatrice
beharrlich die That, obgleich sie aus dem gerechten Haß gegen ihren Vater kein
Hehl macht, und läßt sich schließlich nur durch die Furcht vor der Folter zum
Geständnis; bewegen. So wenig wir diese Handlungsweise begreifen, so wenig
wird uus die Reue der übrigen Familie klar, und so haben wir einen ganz
lahmen Schluß, der aus ein zweckloses Jntriguenspiel herauskommt.

Was die Ausführung betrifft, so erhebt sich die Phantasie in einzelnen
Scenen zu einem wirklichen Aufschwung, der freilich an Trunkenheit grenzt, aber
doch nicht unpoetisch genannt werden kann. Die zu weit getriebene Reflexion,
die bei den meisten englischen Dramatikern den Lauf der Handlung stört, ist auch
hier vorhanden; im Allgemeinen aber möchte der Einfluß Calderon's vorherrschend
sein, mit dem sich Shelley damals sehr eifrig beschäftigte, und man könnte das
Stück als einen Versuch betrachten, die unheimlichen Geschichten, die bei dem
katholischen Dichter, trotz seiner wilden Phantasie mit einer gewissen Naivetät
auftreten, der protestantischen Reflexion verständlich zu macheu. — Auffallend sind
einige Reminiscenzen aus Shakspeare; namentlich ist die Scene aus dem Morde
des Duncan fast wörtlich ausgeschrieben.

Das nächste Stück, auf das wir übergehen, ist der entfesselte Prome¬
theus (1819). Die Tragödie des Aeschylus hat mehreren unsrer neueren Dichter,
die'ihrem Idealismus nur durch überschwängliche Motive gerecht werden konnten,
zu lyrischen und dramatischen Versuchen Veranlassung gegeben. Sie gehört auch
in ihrer Anlage in der That zu dem Merkwürdigsten, was nus die Poesie des
Alterthums überliefert hat. Daß der höchste Gott uicht blos Unrecht thut, son¬
dern daß auch die Möglichkeit seines eigenen Untergangs wie ein Damoklesschwert
über seinem Haupte schwebt, widerstrebt so allen unsren Begriffen und Empfin-


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[0175] einer Religion zusammensetzen soll, welche den Selbstmord verbietet, den Vatermord erlaubt, und die dem verhärteten Verbrecher, der sich selbst zuweilen mit dem Teufel identistcirt, den Wahn einflößt, Gott werde sich zum Ausführer seiner Verwünschungen hergeben, ist schwer zu sagen, wenn man nicht etwa annehmen will, das Ganze solle eine Satyre gegen die katholische Religion überhaupt sein, welche allein einen so greuelvollen Zustand möglich mache. Allein das ist dann wieder zu wenig ausgesprochen, und wir müssen uns mit der Meinung begnügen, der Dichter sei mehr von seinen Phantasien bestimmt worden, als daß er sie zu einem be¬ wußten Zweck hingeleitet habe. Vollends unerklärlich ist uus aber der Schluß des Drama's. Der Mord ist^ am Vater vollzogen, in demselben Augenblicke dringen Gerichtsdiener ins Haus, und nehmen die Schuldige gefangen. Da nun diese Gerichtsdiener den Zweck haben, den alten Cenci der Gerechtigkeit zu über¬ liefern, die sich endlich ermannt , hat, so wäre Beatrice überführt, daß ihre That, wodurch sie der göttlichen Rache Vorgriff, eine überflüssige gewesen ist, und das Stück könnte damit schließen; allein es folgt noch ein ganzer Act, in welchem der Proceß geschildert wird. Während die Uebrigen gestehen, läugnet Beatrice beharrlich die That, obgleich sie aus dem gerechten Haß gegen ihren Vater kein Hehl macht, und läßt sich schließlich nur durch die Furcht vor der Folter zum Geständnis; bewegen. So wenig wir diese Handlungsweise begreifen, so wenig wird uus die Reue der übrigen Familie klar, und so haben wir einen ganz lahmen Schluß, der aus ein zweckloses Jntriguenspiel herauskommt. Was die Ausführung betrifft, so erhebt sich die Phantasie in einzelnen Scenen zu einem wirklichen Aufschwung, der freilich an Trunkenheit grenzt, aber doch nicht unpoetisch genannt werden kann. Die zu weit getriebene Reflexion, die bei den meisten englischen Dramatikern den Lauf der Handlung stört, ist auch hier vorhanden; im Allgemeinen aber möchte der Einfluß Calderon's vorherrschend sein, mit dem sich Shelley damals sehr eifrig beschäftigte, und man könnte das Stück als einen Versuch betrachten, die unheimlichen Geschichten, die bei dem katholischen Dichter, trotz seiner wilden Phantasie mit einer gewissen Naivetät auftreten, der protestantischen Reflexion verständlich zu macheu. — Auffallend sind einige Reminiscenzen aus Shakspeare; namentlich ist die Scene aus dem Morde des Duncan fast wörtlich ausgeschrieben. Das nächste Stück, auf das wir übergehen, ist der entfesselte Prome¬ theus (1819). Die Tragödie des Aeschylus hat mehreren unsrer neueren Dichter, die'ihrem Idealismus nur durch überschwängliche Motive gerecht werden konnten, zu lyrischen und dramatischen Versuchen Veranlassung gegeben. Sie gehört auch in ihrer Anlage in der That zu dem Merkwürdigsten, was nus die Poesie des Alterthums überliefert hat. Daß der höchste Gott uicht blos Unrecht thut, son¬ dern daß auch die Möglichkeit seines eigenen Untergangs wie ein Damoklesschwert über seinem Haupte schwebt, widerstrebt so allen unsren Begriffen und Empfin-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/175>, abgerufen am 22.07.2024.