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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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idealisiren, sehr schwer, gewisse große Kreise der menschlichen Empfindung charak¬
teristisch auszudrücken. Sie hat in ihrem Farbekasteu einige Farben weniger und
fordert von dem, der sie beherrschen soll, eine etwas andere, mehr künstliche Bil¬
dung und längere Schule.

Demungeachtet ist die deutsche Sprache uicht ärmer, als irgeud eine ihrer
Nachbarn. Außer einer großen Vergangenheit und der reichen Literatur, welche
die deutsche Nation in die Gegenwart mitgebracht hat, lebt in ihr auch eine starke,
schöpferische Kraft, welche ihr die Fähigkeit, neue Wörter zu bilden, in höherm
Grade- erhalten hat, als wenigstens bei der französischen der Fall ist. Und gerade
der Umstand, daß diese productive Kraft bei uns durch die zahlreichen verschiede¬
nen Stämme sehr verschieden nnaucirt ist, erhält dieselbe ewig rege, und sichert
der Sprache die Vielseitigkeit. Wenn in dem einen Stamm aus Gründen,
welche zumeist in seinem politischen Leben liegen, die Frende am freien Schaffen
in der Sprache erlöscht, glüht sie in einem audern auf. Allerdings nicht mehr
so, daß der einzelne Stamm das ganze Material seines Dialekts noch in die Sprache
hereinwerfen kann, wie im Mittelalter möglich war, wol aber dadurch, daß er
die charakteristischen Richtungen seiner geistigen Thätigkeit in der Schriftsprache
niederlegt, dieselbe fortbildend und mit sich ziehend. An unserm modernen Deutsch
ist sehr gut zu erkennen, was der Frankfurter Göthe, die Berliner Philosophen,
und was in kleinerem Maße die Schwaben, die Oestreicher u. s. w. in sie herein
gebildet haben.

So erscheint die deutsche Schriftsprache zwar mehr vom Volk abgelöst, als
die französische und englische, und nicht durch Ton und Styl der Hauptstadt in
Form und Methode gestützt, aber auch wieder in ewiger Thätigkeit und Bewegung
dnrch die Einwirkung der Gebildeten ans den verschiedensten Stämmen und Dialecten.

Aus diesen Gründen wird dem gebildeten Deutschen sehr schwer, die Schrift¬
sprache seiner Nation zu beherrschen, deun er selbst muß bei seinem freien künst¬
lerischen Schaffen viel mehr hereinbilden, als unsere Nachbarn. Daher kommt
es, daß der beste deutsche Schriftsteller besser schreibt, freier und anmuthiger charak-
terisirt, sich leichter seine eigene Sprache, neue und originelle Farben erfindet, als
unsere Nachbarn, daß aber der gewöhnliche Schriftsteller in Deutschland anch
schlechter und schlottriger, ärmlicher und ungebildeter schreibt, als der ihm etwa
entsprechende Geist in Paris oder London. Die deutsche Schriftsprache vollstän¬
dig zu beherrschen, dazu gehört eine geniale Kraft, und Sprachkünstler wie Luther,
Fischart, Lessing, Göthe, Schiller hat kein anderes Volk auszuweisen. Da aber solche
Riesenkräfte selten sind und der Gegenwart ganz fehlen, so sind wir Deutsche gerade
jetzt in der schlimmen Lage, daß sich so kurze Zeit nach der glorreichsten Fortbil¬
dung unseres Geistes und unserer Sprache plötzlich eine Barbarei und Rohheit
im Styl der gegenwärtigen Generation zeigt, welche wahrhaft erschreckend ist.
Freilich ist anch nicht schwer zu sehen, woher uns dies Leiden kommt.


idealisiren, sehr schwer, gewisse große Kreise der menschlichen Empfindung charak¬
teristisch auszudrücken. Sie hat in ihrem Farbekasteu einige Farben weniger und
fordert von dem, der sie beherrschen soll, eine etwas andere, mehr künstliche Bil¬
dung und längere Schule.

Demungeachtet ist die deutsche Sprache uicht ärmer, als irgeud eine ihrer
Nachbarn. Außer einer großen Vergangenheit und der reichen Literatur, welche
die deutsche Nation in die Gegenwart mitgebracht hat, lebt in ihr auch eine starke,
schöpferische Kraft, welche ihr die Fähigkeit, neue Wörter zu bilden, in höherm
Grade- erhalten hat, als wenigstens bei der französischen der Fall ist. Und gerade
der Umstand, daß diese productive Kraft bei uns durch die zahlreichen verschiede¬
nen Stämme sehr verschieden nnaucirt ist, erhält dieselbe ewig rege, und sichert
der Sprache die Vielseitigkeit. Wenn in dem einen Stamm aus Gründen,
welche zumeist in seinem politischen Leben liegen, die Frende am freien Schaffen
in der Sprache erlöscht, glüht sie in einem audern auf. Allerdings nicht mehr
so, daß der einzelne Stamm das ganze Material seines Dialekts noch in die Sprache
hereinwerfen kann, wie im Mittelalter möglich war, wol aber dadurch, daß er
die charakteristischen Richtungen seiner geistigen Thätigkeit in der Schriftsprache
niederlegt, dieselbe fortbildend und mit sich ziehend. An unserm modernen Deutsch
ist sehr gut zu erkennen, was der Frankfurter Göthe, die Berliner Philosophen,
und was in kleinerem Maße die Schwaben, die Oestreicher u. s. w. in sie herein
gebildet haben.

So erscheint die deutsche Schriftsprache zwar mehr vom Volk abgelöst, als
die französische und englische, und nicht durch Ton und Styl der Hauptstadt in
Form und Methode gestützt, aber auch wieder in ewiger Thätigkeit und Bewegung
dnrch die Einwirkung der Gebildeten ans den verschiedensten Stämmen und Dialecten.

Aus diesen Gründen wird dem gebildeten Deutschen sehr schwer, die Schrift¬
sprache seiner Nation zu beherrschen, deun er selbst muß bei seinem freien künst¬
lerischen Schaffen viel mehr hereinbilden, als unsere Nachbarn. Daher kommt
es, daß der beste deutsche Schriftsteller besser schreibt, freier und anmuthiger charak-
terisirt, sich leichter seine eigene Sprache, neue und originelle Farben erfindet, als
unsere Nachbarn, daß aber der gewöhnliche Schriftsteller in Deutschland anch
schlechter und schlottriger, ärmlicher und ungebildeter schreibt, als der ihm etwa
entsprechende Geist in Paris oder London. Die deutsche Schriftsprache vollstän¬
dig zu beherrschen, dazu gehört eine geniale Kraft, und Sprachkünstler wie Luther,
Fischart, Lessing, Göthe, Schiller hat kein anderes Volk auszuweisen. Da aber solche
Riesenkräfte selten sind und der Gegenwart ganz fehlen, so sind wir Deutsche gerade
jetzt in der schlimmen Lage, daß sich so kurze Zeit nach der glorreichsten Fortbil¬
dung unseres Geistes und unserer Sprache plötzlich eine Barbarei und Rohheit
im Styl der gegenwärtigen Generation zeigt, welche wahrhaft erschreckend ist.
Freilich ist anch nicht schwer zu sehen, woher uns dies Leiden kommt.


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[0016] idealisiren, sehr schwer, gewisse große Kreise der menschlichen Empfindung charak¬ teristisch auszudrücken. Sie hat in ihrem Farbekasteu einige Farben weniger und fordert von dem, der sie beherrschen soll, eine etwas andere, mehr künstliche Bil¬ dung und längere Schule. Demungeachtet ist die deutsche Sprache uicht ärmer, als irgeud eine ihrer Nachbarn. Außer einer großen Vergangenheit und der reichen Literatur, welche die deutsche Nation in die Gegenwart mitgebracht hat, lebt in ihr auch eine starke, schöpferische Kraft, welche ihr die Fähigkeit, neue Wörter zu bilden, in höherm Grade- erhalten hat, als wenigstens bei der französischen der Fall ist. Und gerade der Umstand, daß diese productive Kraft bei uns durch die zahlreichen verschiede¬ nen Stämme sehr verschieden nnaucirt ist, erhält dieselbe ewig rege, und sichert der Sprache die Vielseitigkeit. Wenn in dem einen Stamm aus Gründen, welche zumeist in seinem politischen Leben liegen, die Frende am freien Schaffen in der Sprache erlöscht, glüht sie in einem audern auf. Allerdings nicht mehr so, daß der einzelne Stamm das ganze Material seines Dialekts noch in die Sprache hereinwerfen kann, wie im Mittelalter möglich war, wol aber dadurch, daß er die charakteristischen Richtungen seiner geistigen Thätigkeit in der Schriftsprache niederlegt, dieselbe fortbildend und mit sich ziehend. An unserm modernen Deutsch ist sehr gut zu erkennen, was der Frankfurter Göthe, die Berliner Philosophen, und was in kleinerem Maße die Schwaben, die Oestreicher u. s. w. in sie herein gebildet haben. So erscheint die deutsche Schriftsprache zwar mehr vom Volk abgelöst, als die französische und englische, und nicht durch Ton und Styl der Hauptstadt in Form und Methode gestützt, aber auch wieder in ewiger Thätigkeit und Bewegung dnrch die Einwirkung der Gebildeten ans den verschiedensten Stämmen und Dialecten. Aus diesen Gründen wird dem gebildeten Deutschen sehr schwer, die Schrift¬ sprache seiner Nation zu beherrschen, deun er selbst muß bei seinem freien künst¬ lerischen Schaffen viel mehr hereinbilden, als unsere Nachbarn. Daher kommt es, daß der beste deutsche Schriftsteller besser schreibt, freier und anmuthiger charak- terisirt, sich leichter seine eigene Sprache, neue und originelle Farben erfindet, als unsere Nachbarn, daß aber der gewöhnliche Schriftsteller in Deutschland anch schlechter und schlottriger, ärmlicher und ungebildeter schreibt, als der ihm etwa entsprechende Geist in Paris oder London. Die deutsche Schriftsprache vollstän¬ dig zu beherrschen, dazu gehört eine geniale Kraft, und Sprachkünstler wie Luther, Fischart, Lessing, Göthe, Schiller hat kein anderes Volk auszuweisen. Da aber solche Riesenkräfte selten sind und der Gegenwart ganz fehlen, so sind wir Deutsche gerade jetzt in der schlimmen Lage, daß sich so kurze Zeit nach der glorreichsten Fortbil¬ dung unseres Geistes und unserer Sprache plötzlich eine Barbarei und Rohheit im Styl der gegenwärtigen Generation zeigt, welche wahrhaft erschreckend ist. Freilich ist anch nicht schwer zu sehen, woher uns dies Leiden kommt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/16>, abgerufen am 22.07.2024.