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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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verständlichen Bilde darstellen, und dieses Bild naß daher ein den Erscheinungen
in der Weise entsprechendes sein, daß das unwillkürliche Gefühl es ohne Wider¬
streben aufnimmt, uicht aber zur Deutung erst aufgefordert wird"; -- so ist das
eine Regel, die man, so lange für das Theater künstlerisch gearbeitet wird, stets
aufgestellt und nach Kräften befolgt hgt. Auch was Wagner weiter verlangt,
das; die Kunst des Dichters uns über die gewöhnlichen Begriffe von Moral,
über die gewöhnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit dnrch die Energie der
Handlung erheben soll, ist von den größeren Dichtern, namentlich von Shakspeare,
häufig auf eine bewundernswürdige Weise ausgeführt worden. Wir lassen also
das Wunder, das uns keinen neuen deutlichen Begriff giebt, bei Seite, und hal¬
ten uns lediglich an den Mythus. Wagner beklagt sich darüber, daß der reflec-
tirende Verstand die schöpferische Kraft des Volkes aufgehoben habe, daß er sein
unmittelbares Wissen durch Anatomie und Chemie, sein unmittelbares LVollen
dnrch Politik und Moral zersetzt habe. Staatsmenschen können keinen Mythus
erzengen. Das ist allerdings in dem Sinn richtig, daß in einer Zeit, wo eine
Wissenschaft existirt, der Mythus nicht mehr an die Stelle des wirklichen Wissens
treten kann; in dem Sinn aber, daß die charakteristischen Eigenthümlichkeiten
eines Helden und die charakteristischen Momente seines Schicksals zusammen-
gedrängt und zu einem übersichtlichen Bilde verdichtet werden, besteht die my¬
thenbildende Kraft noch immer fort, und wird um zweckmäßigsten -- vom
Dichter selbst ausgeübt. Es kommt gar nicht darauf an, daß man ans alte
historische Sagen zurückgeht, -- wie denn z. B. Wagner selbst in seinem Lohen-
grin keinen glücklichen Griff gethan hat, da der Kern dieser Sage zu unsrem
Denken und Empfinden in keinem Verhältniß steht, während er im Tannhäuser
vollkommen richtig dem Mythus die Spitze abgebrochen hat. -- Man kann viel¬
mehr jeden großen historischen Gegenstand mythisch behandeln, allerdings nicht
im recitircnden Drama, wo wir die Situationen wie die Empfindungen detaillirt
haben wollen.

Allein Wagner geht davon ans, daß das recitirende Drama, welches nur
dnrch die Vermittelung des Verstandes auf das Gefühl wirke, überhaupt keine
künstlerische Berechtigung habe. Der Grund davon ist nicht zu begreifen. Wenn
uns eine Handlung dargestellt wird, deren Zusammenhang wir in psychologischer,
wie in ethischer Beziehung vollständig begreifen können, und die dnrch ihre
Energie unsre Einbildungskraft, durch ihren großen Sinn die höheren Kräfte
unsrer Seele fesselt, so wird man eine solche Darstellung wol in das Gebiet
der Kunst rechnen dürfen, wenn man auch zu ihrem Verständniß den Verstand
zu Hilfe rufen muß, was um so weniger bei einem Kritiker Anstoß erregen darf,
der in dem Menschen überall Totalität sucht. Der Verstand gehört doch auch
zur Totalität des Menschen. Wagner meint, daß die immer sich höher steigernde
Spannung der Seele'sich zuletzt in bloßen Worten nicht mehr ausdrücken könne,


verständlichen Bilde darstellen, und dieses Bild naß daher ein den Erscheinungen
in der Weise entsprechendes sein, daß das unwillkürliche Gefühl es ohne Wider¬
streben aufnimmt, uicht aber zur Deutung erst aufgefordert wird"; — so ist das
eine Regel, die man, so lange für das Theater künstlerisch gearbeitet wird, stets
aufgestellt und nach Kräften befolgt hgt. Auch was Wagner weiter verlangt,
das; die Kunst des Dichters uns über die gewöhnlichen Begriffe von Moral,
über die gewöhnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit dnrch die Energie der
Handlung erheben soll, ist von den größeren Dichtern, namentlich von Shakspeare,
häufig auf eine bewundernswürdige Weise ausgeführt worden. Wir lassen also
das Wunder, das uns keinen neuen deutlichen Begriff giebt, bei Seite, und hal¬
ten uns lediglich an den Mythus. Wagner beklagt sich darüber, daß der reflec-
tirende Verstand die schöpferische Kraft des Volkes aufgehoben habe, daß er sein
unmittelbares Wissen durch Anatomie und Chemie, sein unmittelbares LVollen
dnrch Politik und Moral zersetzt habe. Staatsmenschen können keinen Mythus
erzengen. Das ist allerdings in dem Sinn richtig, daß in einer Zeit, wo eine
Wissenschaft existirt, der Mythus nicht mehr an die Stelle des wirklichen Wissens
treten kann; in dem Sinn aber, daß die charakteristischen Eigenthümlichkeiten
eines Helden und die charakteristischen Momente seines Schicksals zusammen-
gedrängt und zu einem übersichtlichen Bilde verdichtet werden, besteht die my¬
thenbildende Kraft noch immer fort, und wird um zweckmäßigsten — vom
Dichter selbst ausgeübt. Es kommt gar nicht darauf an, daß man ans alte
historische Sagen zurückgeht, — wie denn z. B. Wagner selbst in seinem Lohen-
grin keinen glücklichen Griff gethan hat, da der Kern dieser Sage zu unsrem
Denken und Empfinden in keinem Verhältniß steht, während er im Tannhäuser
vollkommen richtig dem Mythus die Spitze abgebrochen hat. — Man kann viel¬
mehr jeden großen historischen Gegenstand mythisch behandeln, allerdings nicht
im recitircnden Drama, wo wir die Situationen wie die Empfindungen detaillirt
haben wollen.

Allein Wagner geht davon ans, daß das recitirende Drama, welches nur
dnrch die Vermittelung des Verstandes auf das Gefühl wirke, überhaupt keine
künstlerische Berechtigung habe. Der Grund davon ist nicht zu begreifen. Wenn
uns eine Handlung dargestellt wird, deren Zusammenhang wir in psychologischer,
wie in ethischer Beziehung vollständig begreifen können, und die dnrch ihre
Energie unsre Einbildungskraft, durch ihren großen Sinn die höheren Kräfte
unsrer Seele fesselt, so wird man eine solche Darstellung wol in das Gebiet
der Kunst rechnen dürfen, wenn man auch zu ihrem Verständniß den Verstand
zu Hilfe rufen muß, was um so weniger bei einem Kritiker Anstoß erregen darf,
der in dem Menschen überall Totalität sucht. Der Verstand gehört doch auch
zur Totalität des Menschen. Wagner meint, daß die immer sich höher steigernde
Spannung der Seele'sich zuletzt in bloßen Worten nicht mehr ausdrücken könne,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/102>, abgerufen am 22.07.2024.